Frühkindliche Bildung in Bremen: Delphine auf dem Deutsch-Parcours

Im Stadtteil Buntentor in Bremen hat eine Grundschule mit umliegenden Kitas die Spaltung der Institutionen, die für die frühkindliche Bildung verantwortlich sind, überwunden.

Lernen miteinander: Grundschul- und Kindergartenkinder auf dem Deutsch-Parcours. Bild: Klaus Wolschner

BREMEN taz | Es ist ein normaler Dienstag in der Grundschule am Buntentor. Kinder aus umliegenden Kitas sind da – zum „Deutsch-Parcours“. Zwölf Tische sind in einem großen Kreis aufgebaut, die „Delphine“ – das sind Grundschulkinder – stehen hinter den Tischen und warten auf die Kindergartenkinder. Die kommen zu einem spielerischen Wettbewerb: An jedem Tisch ist eine kleine Aufgabe zu lösen, und auf einem Zettel notieren die „großen“ Kinder, was die Kleinen geschafft haben. Rund 60 Kinder singen zusammen das Lied „Alle Kinder wollen lesen – Indianer und Chinesen“, und gehen dann konzentriert ihrer Arbeit nach.

„Können Sie unterscheiden, wer hier Erzieherin ist und wer Grundschullehrerin?“, fragt Fridolin Sickinger fast stolz. Nein, man kann es nicht. Hier lernen die Kinder so, als gäbe es die Spaltung zwischen den Behörden nicht, die auf der einen Seite die Kitas, auf der anderen die Grundschulen organisieren. Diese Spaltung ist nicht nur unsinnig, sie ist behindernd, da ist sich Sickinger sicher. Mit dem Modellprojekt Buntentor will er zeigen, dass es auch anders geht. Die Kindergärten und die Grundschule des Stadtteils hat er schon überzeugt, die Leiterin der Grundschule, Meike Baasen, arbeitet seit Jahren zäh an dem Projekt.

Sickinger ist ein Mann der leisen Töne. Von Beruf ist er Erziehungsberater im Bremer Amt für soziale Dienste. Einen Teil seiner Arbeit betreibt er wie ein Hobby: frühkindliche Bildung. Als Psychologe weiß er, dass scharfe Kritik zu Abwehrreflexen führt.

Die Deutschen haben den "Kindergarten" erfunden, aber Pisa hat gezeigt: Er ist reformbedürftig. Unter Experten ist Konsens: ErzieherInnen müssen in einem Hochschulstudium zu ExpertInnen für frühkindliche Bindung qualifiziert werden. Weil das teuer wäre, spielt die Politik auf Zeit, experimentiert mit "Modellprojekten".

Das Bremer Projekt "TransKiGs" sollte Brücken zwischen Kita und Schule bauen. Die Ergebnisse stehen bei den Behörden im Schrank.

Das Fünf-Jahres-Modellprojekt "Brückenjahr" haben 14 Prozent der Kitas in Niedersachsen abgeschlossen. Nächstes Modellprojekt: An acht Standorten sollen Kita und Grundschule zur "Elementarschule" zusammenwachsen.

Warum ist die institutionelle Spaltung zwischen Kindergarten und Schule so fatal? Sickinger würde das vermutlich nie so deutlich sagen, weil es so negativ klingt: Das Problem ist, dass eine Spaltung in den Köpfen der pädagogischen Expertinnen erzeugt wird. Das System produziert zu seiner Legitimation die entsprechenden Ideologien: Kindergartenkinder spielen, Schulkinder lernen, das ist das Muster. Mit dieser Begründung wird die Ausbildung für Erzieherinnen in Kindergärten als deutlich geringere Qualifikation konzipiert. An den Unterschieden der Bezahlung für Erzieherinnen und LehrerInnen ist abzulesen, wie unterschiedlich die Gesellschaft die Arbeit in den beiden Institutionen einschätzt. Aber dieser Statusunterschied ist Gift für die pädagogische Arbeit. Erzieherinnen müssen genauso gut verstanden haben, wie Kinder Mathematik lernen. Und Grundschullehrerinnen müssen die Bedeutung von Singen und Musik für die elementare Pädagogik ernst nehmen.

Die institutionelle Spaltung behindert die frühkindlichen Bildungsprozesse, sagt Sickinger. Sie spiegelt ein völlig überholtes Verständnis von Lernen wider. Und das hat katastrophale Folgen: Selbst eine gute Schule kann kaum nachholen, was im vorschulischen Alter versäumt wurde. „Es gab und gibt die unpräzise Diskussion über spielerisches versus kognitives Lernen, die nichts klärt und das Problem verklebt“, erklärt Sickinger. Die neue Entwicklungspsychologie spricht von „intuitivem Lernen“, das für kleinere Kinder typisch ist, das basiert auf neurophysiologisch verankerten Programmen. Kleine Kinder sind Super-Lerner. Sie fangen zum Beispiel ganz von alleine an, Muster zu legen, weil sie Ordnungssysteme lieben. Das ist evolutionsbiologisch begründet.

„Wichtig ist nun, was an Resonanz aus der Umwelt kommt, wenn das Entwicklungsinteresse erwacht“, erklärt Sickinger. Kinder brauchten dann die „Ko-Konstruktion“ der Erwachsenen, das geeignete Material, die Ermutigung, das Vorbild, die Herausforderung. „Und dann gehen die Kinder langsam von diesem intuitiven Lernen, das sehr viel Schwung hat, das widerstandsfähig ist gegen Störungen, in die Übergangszone, in der sich intuitives Lernen und bewusstes Lernen mischen.“ Ein moderner „Bildungsplan“ müsse die Zeit von null bis zehn Jahren als Einheit beschreiben. „Es gibt keinen Tag X, an dem Schulreife eintritt und der Übergang vom System Kindergarten ins System Schule Sinn hat“, ist Sickinger überzeugt.

Man muss diesen Hintergrund verstehen, um zu begreifen, wie elementar das ist, was in dem Deutsch-Parcours am Buntentor passiert. Es ist ein kleines Bildungsspiel, die Kindergartenkinder sind vorbereitet auf die Fragen, die ihnen die Grundschüler stellen. Sie sollen den Test schaffen. Auf einem Tisch liegen Karten mit Tierbildern – „Was klingt vorne gleich?“, ist die Aufgabe. Für die Kindergartenkinder ist das ein Laut-Spiel. Für die Grundschule ist es die Voraussetzung für jegliches Laut-Differenzieren, also auch für das Lesenlernen. Die Kita-Kinder sollen Reime finden, Silben hüpfen und klatschen. An einem Tisch müssen sie die einzelnen Buchstaben ihres Namens aus einer großen Liste herausfinden und einkreisen.

Es gibt einen Parcours mit vergleichbaren Spielen für eine „Reise in das Matheland“. Es soll einen dritten geben für Naturerkundung. Der Witz dabei klingt so einfach: „Kitas und Grundschule stimmen die Inhalte des Parcours ab.“ Warum ist das so außergewöhnlich? Weil Grundschullehrerinnen und Erzieherinnen sich mit Misstrauen und Konkurrenzdenken begegnen. Am Buntentor haben sich Erzieher und Lehrer gegenseitig wertschätzen gelernt.

Sickinger hat ein Hilfsmittel erfunden, das die Aufmerksamkeit des Kindes auf sein eigenes Lernverhalten konzentriert: einen Entwicklungsstern. „Das ist ein Stern, den Kinder anmalen. Die Zacken stehen für Fähigkeiten, im Kindergarten zum Beispiel: Ich kann manchmal ruhig sitzen, oder: spielen und bauen.“ Die Kinder selbst beschreiben an diesem Stern im Gespräch mit der Pädagogin ihre Fähigkeiten – und überlegen, was sie demnächst lernen wollen.

Nach zwei Stunden Deutsch-Parcours wissen die Schulkinder vom Buntentor, was sie gelernt haben, seitdem sie nicht mehr in der Kita sind. Und die Kita-Kinder ahnen, was sie auch einmal alles können wollen.

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