„Game-Studies“: Von Ego-Shootern lernen

Computerspiele sind ein popkulturelles Phänomen. An der Universität Potsdam gibt es deshalb eine der größten Sammlungen der Welt – für die Wissenschaft.

„Nutzer von Ego-Shootern erzählen, dass sie im Arbeitsalltag einen Tunnelblick bekommen und ihre Arbeiten fokussierter erledigen würden." Bild: micjan / photocase.com

POTSDAM taz | Der muskelbepackte Rocker Eddie schwingt sich aus seinem schwarzen Monster-Racer in eine apokalyptische Unterwelt. Er atmet tief durch – die wilde Flucht über eine einstürzende Brücke hat er überstanden, doch was kommt jetzt? Plötzlich bricht ein riesiges Ungeheuer aus dem Boden hervor und brüllt Eddie an. Der Held in der Lederjacke zückt umgehend seine Waffe – eine glühende Axt …

Studentin Silja Rheingans pausiert das Spiel und dreht den Kopf nach rechts: „Ist die Handlungsperspektive jetzt eine semisubjektive oder avatarfokussierte?“ „Eher semisubjektiv, oder? Es ist ja an eine Blickachse gebunden“, sagt ihre Kommilitonin Sarah Schuster, die mit einem mehrseitigen Tabellenbogen auf gekreuzten Beinen danebensitzt. Rundherum stehen fünf StudentInnen für Europäische Medienwissenschaft und schauen auf den Bildschirm, auf dem gerade das Xbox-Game „Brütal Legend“ gespielt wird.

Ziel der Übung: Das Spiel soll korrekt kategorisiert werden, um dessen Erforschung zu erleichtern. In dem kleinen Raum, in dem sich bis zur Decke Pappboxen und DVD-Hüllen mit Computer- und Konsolenspielen stapeln, wird Wissenschaft betrieben – „Game Studies“, um genau zu sein.

Der Raum befindet sich in einem unscheinbaren Verwaltungsgebäude der Universität Potsdam und beherbergt ein europaweit einzigartiges Projekt: die Computerspiel-Sammlung des Digital Games Research Centers (Digarec), eines interdisziplinären Zusammenschlusses verschiedenster Institute der Uni Potsdam und des Computerspielmuseums Berlin.

Über 7.500 Spiele

Auch in einem weiteren Raum quellen die Wände über vor Spielen aus allen möglichen Genres. Klassiker sind ebenso dabei wie Kuriositäten und aktuelle Bestseller: Über 7.500 säuberlich signierte Titel von 1960 bis zur Gegenwart. In einem abschließbaren Metallschrank lagern Konsolen wie die Nintendo Wii oder eine Playstation. Es ist ein Spiele-Paradies, zweifellos, das zugleich einen ernsten Zweck verfolgt: die Ermöglichung einer wissenschaftlichen Untersuchung von Computerspielen. Aber warum ist das überhaupt nötig?

„Geisteswissenschaften beschäftigen sich mit Artefakten, die die Kultur hervorbringt. Game Studies haben damit dieselbe Berechtigung wie etwa Literaturwissenschaft“, sagt Michael Liebe, 33, Initiator der Sammlung und Digarec-Gründungsmitglied. „Computerspiele sind ein popkulturelles Phänomen, das den Zeitgeist widerspiegelt. Wenn ich den verstehen will, muss ich mich damit beschäftigen.“

Sebastian Möring, 30, Doktorand für Game Studies an der IT-Universität Kopenhagen, sieht das ähnlich: „Achtzig Prozent der Jugendlichen nutzen Computerspiele und das Durchschnittsalter der Spieler steigt immer weiter. Natürlich wollen wir wissen, was mit denen passiert.“

Spielen tut auch Mark Butler (37), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Künste und Medien der Uni Potsdam. Jahrelang hat er Spieler interviewt, sich selbst beim Spielen beobachtet und seine Ergebnisse psychoanalytisch ausgewertet. Er erzählt von sogenannten Transfer-Phänomenen: „Manche Spieler der Aufbausimulation ’Sim City‘ begannen innerlich damit, die reale Stadt, in der sie sich bewegten, in Bebauungszonen einzuteilen. Nutzer von Ego-Shootern erzählten, dass sie im Arbeitsalltag einen Tunnelblick bekommen und ihre Arbeiten fokussierter erledigen würden.“

Spielen fördert Kompetenz

Zu den wichtigsten Erkenntnissen zählt für Butler, dass Spiele nicht nur unterhaltend sind, sondern zahlreiche Kompetenzen fördern: „Im Game hinterfragt man die Regeln, nach denen man spielt. Diese Kompetenz übertragen viele Spieler auf die nichtvirtuelle Welt.“ Und Spiele verändern auch körperliche Fähigkeiten: 2004 stellten israelische Wissenschaftler fest, dass Ärzte, die laparoskopische Chirurgie betreiben (bei der die Operationsinstrumente per Computer gesteuert werden), bessere Ergebnisse erzielten, wenn sie in ihrer Freizeit häufig spielten.

Games sind nicht nur für Medien- und Kulturwissenschaftler ein Forschungsobjekt. Lange Zeit waren es vor allem Psychologen und Pädagogen, die sich mit ihnen beschäftigten, inzwischen haben auch Literaturwissenschaftler, Soziologen, Philosophen, Militärwissenschaftler und sogar Theologen das Spielen für sich entdeckt.

Dabei geht es längst nicht mehr darum herauszufinden, ob Ego-Shooter Gewalttaten fördern, sondern um größere Fragen: Wie kann man Spiele im Unterricht einsetzen? Lässt sich die künstliche Intelligenz von Spielfiguren auf Roboter übertragen? Verändern Adventure-Spiele unser Verständnis von Erzählstrukturen? Und wie lassen sich Kriegsstrategien in Simulationen erproben? „Games sind ein neu entdecktes Objekt, das viele hungrige Wissenschaften mit neuen Problemen versorgt“, sagt Sebastian Möring.

Diesem Hunger Nahrung zu geben, war jedoch jahrelang schwer möglich. Denn während sich jeder Akademiker für seine Untersuchungen Bücher aus Bibliotheken oder Filme aus Mediatheken ausleihen kann, sieht es bei Spielen schlecht aus. „Genauso wie man Bücher lesen muss, um sie zu untersuchen, muss man Computerspiele auch spielen“, sagt Michael Liebe. Wie aber soll man etwas erforschen, auf das man nicht leicht und ohne großen Kostenaufwand zugreifen kann?

Startbudget: 100 Euro

Eine Notwendigkeit, die auch von der Universitätsleitung gesehen wird: „Die Computerspielsammlung an der Universität Potsdam stellt einen wichtigen Schritt in dem noch jungen Forschungsfeld dar“, sagt Ulrike Lucke, Chief Information Officer der Uni Potsdam. Dabei hat diese Sammlung klein anfangen müssen: Das Startbudget von gerade mal 100 Euro wurde 2006 zunächst mal in Computerspiel-Zeitschriften mit Freiexemplaren von älteren Games investiert, später wuchs die Sammlung auch durch die Mithilfe von Privatspendern und großen Spiele-Publishern wie Electronic Arts.

Besonders Computerspiel-Journalist Carsten Görig hat viel dazu beigetragen: „In dem Internet-Forum ’Spielkultur-Liste’ hatte er geschrieben, dass er seinen Dachboden aufräumt und einen Großteil seiner Sammlung verschenkt“, sagt Michael Liebe, „da bin ich sofort nach Hamburg gedüst und hatte das Auto dann bis zum Vordersitz mit über 2.000 Spielen voll.“

Doch noch ist die Situation der Sammlung unbefriedigend: Wegen der schwierigen Erreichbarkeit gibt es pro Semester nur etwa 20 Leihanfragen. Das soll sich bald ändern: „Eine Kooperation mit der Universitätsbibliothek erscheint sinnvoll“, sagt Ulrike Lucke. Auch die öffentliche Philipp-Schaeffer-Bibliothek in Berlin hat vor kurzem eine „Gamelounge“ mit rund 3.500 Konsolentiteln eingerichtet, und das Computerspielmuseum Berlin, das über ein Archiv von 20.000 Spielen verfügt, arbeitet derzeit daran, seinen Bestand besser zugänglich zu machen.

Das Museum wird allerdings privat geführt – genau wie die weltweit vielleicht größte Sammlung mit etwa 30.000 Titeln an der Stanford-Universität in Kalifornien – während die Potsdamer Sammlung einer öffentlichen Universität angehört. „Meines Wissens ist die Computerspiel-Sammlung in dieser Form und dieser Größe einzigartig in Europa, vielleicht sogar weltweit“, sagt Michael Liebe.

Sarah Schuster und Silja Rheingans schalten die Xbox aus. Der Kategorisierungsbogen mit über 20 Fragen ist ausgefüllt: Spielmodus, Setting, Objektinteraktion, Regelstruktur, Aktionsachsen. Allein um dieses System zu entwickeln, haben die Potsdamer Game-Studies-Pioniere jahrelang getestet. Nun können die Spiele nach und nach in die Kategorien überführt werden, damit spätere Forscher sich an ihnen orientieren können. „Die eigentliche Arbeit kommt jetzt erst“, sagt Mark Butler.

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