Gaza-Tagebuch: „Wir warteten den ganzen Tag auf ein Auto“
Unsere Autorin muss vor der Offensive auf Gaza-Stadt wieder einmal flüchten. Sie kämpft mit der Logistik – und mit einer unmöglichen Entscheidung.

I ch zähle, wie oft ich in diesem Krieg bereits gestorben bin. Oder besser gesagt: Wie oft ich getötet wurde. Es fühlte sich so an jedes Mal, wenn ich gezwungen war, von einem Ort zum anderen zu fliehen. Jedes Mal, wenn ich meinen Kopf auf das Kissen eines Fremden legte. Jedes Mal, wenn der Weg „nach Hause“ in die Wohnung eines anderen führte.
Das erste Mal wurde ich am 10. Oktober 2023 getötet: Damals verließ ich mein Zuhause in Beit Lahia – das zur „roten Zone“ im Nordosten Gazas erklärt wurde – und zog ins Haus meiner Schwester nach Jabalia. Dann in das Haus meiner Großmutter. Am 20. November 2023 – meinem Geburtstag – beschlossen wir, zu Fuß Richtung Süden zu ziehen, über den Netsarim-Checkpoint. Wir liefen fast einen halben Tag lang. Wir machten Halt im Haus meiner Tante in Khan Yunis, – nicht weil wir das geplant hatten, sondern weil wir einfach keine Ahnung hatten, wohin wir eigentlich gehen sollten. Zwölf Tage später kam erneut der Befehl, dass wir nach Rafah aufbrechen mussten. Meine Hand war damals verletzt; ich konnte nicht einmal meine eigene Tasche tragen.
Wir kamen damals nach Mitternacht in Rafah an, ließen unsere Taschen auf den Bürgersteig fallen und brachen neben ihnen zusammen. Ich schlief auf dem nackten Boden und bedeckte mich mit dem Schal meiner Mutter. Die Kälte des Winters im Gazastreifen ist gnadenlos. Ich konnte die Zähne aller um mich herum die ganze Nacht lang klappern hören.
Der Morgen kam, aber es gab keine Unterkunft für uns. Ein Freund bot uns einen Lagerraum unter einer Treppe an, nicht größer als vier Quadratmeter, in einer überfüllten Schule für Vertriebene. Dreizehn von uns schliefen in dieser Nacht dort, zusammengepfercht wie Sardinen in einer Dose. Am nächsten Tag bauten meine Brüdern ein Zelt auf dem Schulhof aufzubauen, und dort blieben wir.
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Zurück in mein verkohltes Zimmer
Die Monate vergingen, bis im Mai 2024 neue Evakuierungsbefehle den Osten von Rafah erreichten. Wir flohen nach Westen in das Lager Zuarab. Doch bald wurde die Räumung von ganz Rafah angeordnet, sodass wir erneut vertrieben wurden. Wir zogen nach al-Mawasi, einem Küstenstreifen nahe der Stadt Khan Younis. Dort ertrugen wir in einem Zelt die Hitze des Sommers, die Stürme des Winters und den Staub des Herbstes. Das Meer wurde zu meinem Zufluchtsort vor einer Realität, die ich kaum mehr etragen konnte.
Und dann endlich kam der Moment, auf den wir so lange gewartet hatten: Nach der Verkündung des Waffenstillstands Mitte Januar 2025 durften die Menschen nach Norden zurückkehren. Auch ich kehrte zurück – in mein teils ausgebranntes Haus, mein verkohltes Zimmer. Wir begann mit den Renovierungsarbeiten. Ich hoffte, zumindest die Tür zu meinem Zimmer reparieren zu können, um ein Stückchen der Privatsphäre zurückzugewinnen, die mir anderthalb Jahre lang genommen worden war. Aber bevor ich dazu kam, kehrte der Krieg zurück.
Am 17. Mai flohen wir erneut, diesmal in einen verbrannten, zerfallenden Lagerraum in Gaza-Stadt. Dann, am 1. August, folgte eine weitere Evakuierung. Zu diesem Zeitpunkt war jeder Winkel der Stadt völlig überfüllt. Gaza-Stadt konnte seine eigene Bevölkerung nicht mehr aufnehmen. Überall waren Zeltlager. Wir zogen also in den Norden nach al-Saftawi – das bereits damals von einer Vertreibungsanordnung bedroht war. Wir hatten keine Wahl, wie viele andere. Jeder Umzug kostet uns Geld für den Transport, jede neue Unterkunft kostet uns Miete, die wir kaum aufbringen konnten.
Wir blieben bis zum 26. August 2025 in al-Saftawi. An diesem Morgen ging das gewohnte Summen der Drohnen in Schüsse über. Aus Lautsprechern drangen Rufe: „Sofort evakuieren“. Drei Leichen sag ich auf der Straße liegen – darunter eine Mutter und ihr Kind. Nachbarn schrien Warnungen, Panik breitete sich aus. Wir warteten den ganzen Tag auf ein Auto, das uns wegbringen sollte – von zehn Uhr morgens bis sieben Uhr abends. Und erreichten schließlich um zehn Uhr abends das Viertel al-Nasr. Ein weiterer Tag im Exil, ein weiterer Mord an meiner Seele.
Gehen oder bleiben?
Jetzt schwanken wir zwischen zwei unmöglichen Entscheidungen: Im Gouvernement Gaza bleiben, und die Konsequenzen tragen. Oder nach Süden ziehen, wie es die Besatzungsmacht verlangt – und das Exil bitteren Tropfen für Tropfen trinken.
Ich habe mir nun in meinem Kopf einen Zufluchtsort geschaffen: Ich sitze in unserem mittlerweile defekten Auto und stelle mir vor, wie ich eine breite, freie, sichere Straße entlangfahre. Eine Straße, die in Licht und Ruhe endet.
Allein diese Vorstellung hält mich am Leben. Sie ist der einzige Zufluchtsort für meine Seele, ein Schutzschild, das meinen Verstand vor dem Zusammenbruch bewahrt. Ohne sie würde ich den Rest meiner Tage nur damit verbringen, zu zählen, wie oft wir getötet worden sind.
Sawsan Al-Ajouri hat an der Islamischen Universität Gaza Englische Literatur studiert, ihr Lieblingsautor ist T.S. Eliot. Sie schreibt seit acht Jahren Gedichte; noch ist ihr Erstlingswerk unveröffentlicht.
Internationale Journalist*innen können seit dem Beginn des Krieges nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.
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