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Gaza-Tagebuch„Das Meer wirkt düster und trüb – kein Lachen, kein Planschen“

Unsere Autorin liebt das Meer – auch weil es sie an ihren getöteten Vater erinnert. Nun hat Israels Militär den Menschen in Gaza das Baden darin verboten.

Als sich viele im Gazastreifen noch ins Meer trauten: ein Mädchen mit seiner Mutter am 2. Juli Foto: Abdel Kareem Hana/ap

A ls wir Kinder waren, standen wir am Strand, und ich zeigte auf den entferntesten Punkt, den wir über das Mittelmeer hinweg sehen konnten, und sagte zu meinem Bruder: „Weißt du, dass dort drüben die Türkei und Europa liegen? Sie sind ganz nah – nur das Meer trennt uns!“ Doch ich hatte mich geirrt: Es ist nicht nur das Meer, das uns trennt. Sondern Welten.

Wen auch immer man im Gazastreifen nach dem Meer fragt: Alle haben Erinnerungen daran – von ihrer Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Es gibt eine untrennbare Verbindung zwischen dem Meer und den Menschen im Gazastreifen.

Für mich war das Meer immer mit meinem Vater verbunden. Er war der Erste, der mir das Schwimmen beigebracht hat. Der Erste, der mich ermutigt hat, mich meinen Ängsten zu stellen und in die Tiefe zu tauchen. Der Erste, der mir gezeigt hat, wie das Meer mir Linderung verschaffen kann, wenn mich schwere Gedanken plagen.

Seine Beziehung zum Meer war unzerbrechlich. Im Winter ging er mit meinem Onkel und ihren Freunden angeln und grillte dann den Fang gleich auf dem Sand. Im Sommer nahm er jedes Wochenende die ganze Familie mit an den Strand: mit Tabletts voller Maqlouba – ein traditionelles palästinensisches Gericht aus Reis, Gemüse und Huhn – und natürlich der unverzichtbaren roten Wassermelone. Wir verbrachten den ganzen Tag damit, uns zu vergnügen: schwimmen, spielen, essen, lachen – bis die Sonne unterging.

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Das Meer blieb ein Zufluchtsort – auch im Krieg

Ich habe mich immer gefragt: Wie leben Menschen ohne Meer? Wohin flüchten sie vor dem Lärm der Welt? Der Krieg hat mir und meiner Familie so viel genommen: unser Zuhause, unsere Stadt Beit Lahia, sogar meinen Vater. Ein israelischer Luftangriff tötete ihn im Frühling. Aber ich habe immer geglaubt, dass es eine Sache gibt, die auch der Krieg uns niemals nehmen kann: das Meer.

Selbst während des Krieges blieb es ein Zufluchtsort für die Bewohnerinnen und Bewohner Gazas. Kinder und Erwachsene schwammen Tag wie Nacht darin, dazu kamen die Fischer in ihren Booten. Es gab ja nichts anderes zu tun. Selbst wenn die Menschen israelische Kriegsschiffe sahen, gingen sie weiter ins Wasser. Die Angst konnte ihnen nicht das Recht nehmen, zu schwimmen.

Doch vor einiger Zeit verkündete die israelische Armee ein Verbot, entlang der gesamten Küste Gazas ins Meer zu gehen. Gaza ohne sein Meer? Was für ein Wahnsinn ist das, fragen wir uns. „Jetzt braucht man sogar eine Genehmigung für das Meer“ – dieser Satz wurde jüngst von vielen Bewohnerinnen und Bewohnern Gazas wiederholt, um sich über diese Entscheidung lustig zu machen.

Zunächst schenkten nicht viele Menschen dem Befehl Beachtung, und einige Fischer fuhren weiter, als hätte sich nichts geändert. Doch am Dienstagmorgen, dem 15. Juli, war alles anders. Zwölf israelische Kriegsschiffe unterschiedlicher Größe tauchten in der Nähe des Hafens von Gaza auf. Zu diesem Zeitpunkt war das Meer voller Menschen – Kinder, Erwachsene, Dutzende von Fischerbooten, die mit ihrem Fang zumindest ein paar Menschen ernähren könnten. Die Fischerboote zogen sich sofort zurück – und entkamen so womöglich einem Angriff. Die Kriegsschiffe führten Manöver in Küstennähe durch und feuerten Warnschüsse ins Wasser.

Nahost-Konflikt

Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.

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Das Meer ist nah – und doch so weit entfernt

Eine bedrückende Stille legte sich danach über das leere Meer. Auch an diesem Morgen ist es dort still, bis auf ein paar Kinder, die am Ufer sitzen. Das Meer wirkt düster und trüb – kein Lachen, kein Planschen.

Wohin sollen die Menschen jetzt fliehen, vor dem Lärm und dem Horror des Krieges? Es gibt keinen Ort mehr. Letztlich hat mir der Krieg auch noch das Meer genommen. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass einmal ein Tag kommen würde, an dem wir das Meer sehen können – aber es nicht berühren.

Seham Tantesh, 23, aus Beit Lahia, ist die Cousine unserer Reporterin Malak Tantesh. Sie wurde insgesamt acht Mal vertrieben.

Internationale Jour­na­lis­t*in­nen können seit Beginn des Kriegs nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.

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16 Kommentare

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  • Das ist Schikane und Quälen auf allerhöchster staatlicher Ebene. Mir fällt einfach nichts anderes dazu ein, als das pure Bösartigkeit und sadistisches Quälen von Menschen zu nennen. Keinen einzigen anderen rational oder vernünftig auch nur ansatzweise nachvollziehbaren Grund kann es für ein unerhörtes, unverschämtes Verbot geben, für von der verstaubten, heißen Trümmerwüste Gazas und dem Krieg zermürbten, erloschenen Menschen, ganz besonders den Kindern, die sich ein klein wenig Erleichterung vom einzig Verbliebenen, dem Meer erhoffen.



    In Gaza wird man erschossen, wenn man ins Krankenhaus geht, wenn man Essen besorgen geht und nun auch, wenn man bloß ins Meer geht?!?



    Man wird in seiner eigenen Reaktion auf solch absurde Berichte infantil und kriegt emotionale Schnappatmung mit immer nur dem Gedanken: Wieso dürfen dies das? Was bilden sich die Israelis eigentlich ein, dass sie Menschen, kriegsgeplagte Menschen in der Hitze, auch noch damit quälen dürfen, nicht in ihr eigenes Meer vor den Füßen gehen zu dürfen.

    Nennt das gerne Antisemitismus, es gibt gerade kein anderes Land, dass mir unsympathischer ist, nicht mal NordKorea, nicht mal Russland, nicht mal die Türkei, als Israel!!

  • Was ist denn der rationale Grund den Zugang zum Meer zu sperren?

  • Ich hoffe immer noch, dass die Regierungen der Welt aufstehen und dieses unfassbare Leiden wirklich verurteilen aber keiner traut sich. Man ist ja sofort antisemitisch, wenn man es wagt, die Israelische Regierung zu kritisieren. Hier ist ein Land, das ganz deutlich zeigt um was es geht (Syrien usw), die Grenzen zu erweitern und arabische Nachbarn zu vernichten und zurückzudrängen, damit Israel ein uneinnehmbares Bollwerk ist. Sie können und wollen nicht mit Nachbarländern auskommen. Ich denke das entstand in Jahrhunderten, in denen die jüdische Menschen keine wirkliche Heimat hatten; sie machen sicher, dass das nie mehr wieder passieren wird. Entschuldigt das eine ganze Bevölkerung niederzumetzeln und zu vertreiben? Ist das mit dem jüdischen Glauben vereinbar? Auge um Auge?

    • @Superlative:

      Das ist grober Unfug, was Sie hier schreiben. Israel hat es nicht nötig, grundlos gegen Nachbarstaaten vorzugehen, während diese aus zutiefst irrationalen Gründen - z.N. religiösen - offen und sogar auf Deutschlands Straßen zur totalen Vernichtung Israels aufrufen und das seit Jahrzehnten, auch und gerade in relativ friedlichen Perioden. Frieden und Verständigung mit dem jüdischen Nachbarn ist von deren Machthabern zumeist nicht gewollt, nicht umsonst richtete sich das Massaker am 7.10. gegen Israelis in den linken Kibbutzim , die genau diesen Frieden immer unterstützt haben. Das wird irgendwie total ignoriert. Israel und das jüdische Volk wird sich völlig zurecht nie wieder in den Abgrund führen lassen und Sie wissen auch ganz genau woher das kommt.

    • @Superlative:

      Das Klischee "Auge um Auge" gefällt mir nicht, oder alle jüdischen Menschen, so meine Wahrnehmung, in eine Schublade zu stopfen.



      Viele Juden, gerade außerhalb Israels, hassen Netanyahu wohl geradezu für das, was er anderen Menschen gerade antut.

      Dass Netanyahu gerade nur mit Dauergewalt agiert, darf ausgesprochen werden. Viele würden dieses Aussprechen dabei endlich deutlicher auch von der deutschen Bundesregierung erwarten - und Handlungen. Auf Ende der Besatzung dringen, Palästina anerkennen, Lebensmittel auch gegen den großen Erpresser über Gaza abwerfen.

    • @Superlative:

      Ihre Aussagen verzerren die Realität und wiederholen antisemitische Narrative. Kritik an der israelischen Regierung ist legitim und wird in Israel selbst intensiv geführt – sie als „tabuisiert“ darzustellen, ist falsch. Wer aber behauptet, Israel wolle „arabische Nachbarn vernichten und zurückdrängen“, verbreitet schlichte Parolen und unterschlägt, dass Israel mit mehreren arabischen Staaten Friedensabkommen geschlossen hat und um Normalisierung bemüht ist. Gerade solche Pauschalvorwürfe befeuern antisemitische Ressentiments, auch wenn das vielleicht nicht Ihre Absicht ist. Seriöse Diskussion über Israels Politik braucht Differenzierung, keine hysterischen Schuldzuweisungen oder die Dämonisierung eines ganzen Landes. Wer aus legitimer Kritik ein Pauschalurteil mit Vernichtungsrhetorik bastelt, verlässt den Boden der sachlichen Auseinandersetzung und trägt so zur weiteren Vergiftung des Diskurses bei.

  • Danke für den Bericht.



    Ein weiterer Aspekt der den verwehrten Zugang zum Meer noch schlimmer macht ist, dass das Meer aufgrund der massiven Zerstörung der Wohnhäuser für viele ja auch eine Quelle für die tägliche Hygiene oder auch das Waschen von Kleidung ist. Und da muss man auch mal darauf hinweisen, das seit Monaten auch massiv die Einfuhr von einfachen Hygieneartikeln wie Seife massiv blockiert wird und die meisten Frauen und Mädchen auch seit Monaten keine Hygieneartikel für ihre Periode haben. Jetzt noch den Zugang zum Meer abzuschneiden bedeutet dann auch, das die Hautkrankheiten die sowieso schon zugenommen haben und alle anderen Krankheiten die in Zusammenhang mit schlechten hygienischen Verhältnissen stehen, explosionsartig ansteigen werden. In Kombination mit einem extrem dezimierten Gesundheitssystem und Menschen die durch Mangel- und Unterernährung sowieso ein geschwächtes Immunsystem haben ist das nicht nur katatrophal, sondern unmenschlich. Und deutsche Politiker schauen zu und haben offensichtlich die falschen Lehren oder gar keine aus unserer Geschichte gezogen.

  • Wie lange noch kann man auf Israels Seite stehen, wenn nichts, aber auch gar nichts Positives von diesem Land ausgeht?

    • @ Christoph:

      Wenn Sie schon so seltsame Fragen stellen: wie kann man "auf palästinensischer Seite" stehen? Was ging und geht Gutes aus von dort? Außer Mord und Totschlag, Terror, Unterdrückung der Bevölkerung und einer Bevölkerung, die das weitgehend auch noch okay findet?

  • Ebenfalls Tagebuch aus Gaza:

    Die amerikanische Organisation Equality Campaign Inc. hat eine Website mit dem Titel Queer in Gaza eingerichtet, um das Bewusstsein für die tödlichen Aktionen der Hamas zu schärfen, die sich gegen die verfolgte LGBTQ+-Gemeinschaft im Gazastreifen richten. »Erfahren Sie die Fakten über die Behandlung von LGBT-Palästinensern durch die Hamas«, heißt es auf der Website, die erklärt: »Das Leben als Queer-Person in Gaza wird von der Hamas, den Machthabern von Gaza, mit Folter und Tod bestraft. Es gibt keine Transgender-Bevölkerung in Gaza, weil jede Trans-Person, die offen lebt, von der Hamas gejagt wird.«

    Hamas-Mitbegründer Mahmoud Zahar sagte in der Vergangenheit: »Ihr im Westen lebt nicht wie menschliche Wesen. Ihr lebt nicht einmal wie Tiere. Ihr akzeptiert die Homosexualität. Und jetzt kritisiert ihr uns?«

    www.mena-watch.com...-verfolgung-hamas/

    Wo waren "Tagebücher aus Gaza" als es "nur" um Homosexuelle ging?

    Das Verbot, in Gaza ins Meer zu gehen, hat mehrere aktuelle und strukturelle Gründe, die meist sicherheits- oder gesundheitsbezogen sind. Es handelt sich nicht um ein ständiges, allgemeines Verbot.

    • @Pawelko:

      „Gründe die Gesundheitsbezogen sind“, ist das Ihr Ernst, wieviel zynischer und empathieloser geht es eigentlich Menschen gegenüber noch? Denken Sie noch mal über die gesundheitlichen Gründen nach, nachdem sie über menstruierende Frauen und Mädchen in der Sommerhitze ohne die letzte verbliebene Möglichkeit der körperlichen, hygienischen Reinigung, nämlich das Meer, nachgedacht haben, ach ja, übrigens Frauen und Mädchen, die aufgrund Israels Blockade nicht mal Hygieneartikel wie Binden oder Seife bekommen Natürlich abgesehen davon, dass sie auch kein Wasser zur Verfügung haben, übrigens auch wegen der Israelis.

      Wie Sie da den Bogen zu der Queerrenfeindlichkeit der Hamas schlagen, die kein Alleinstellungsmerkmal der Hamas ist und keine israelischen Kriegsverbrechen rechtfertigt (dabei natürlich die Queerrenfeindlichkeit der gläubigen Juden ausblendend, der frühere israelische Gesundheitsminister verkündete Corona als eine Strafe Gottes für Homosexualität, was sagen Sie denn dazu, ist deswegen im Umkehrschluss Hamas Terror in Ordnung, weil die israelische Regierungsmitglieder und gläubige Juden Queerfeindlich sind? Schön, dass sie sich aber wenigstens für Etwas einsetzen!

    • @Pawelko:

      Und was hat das nun mit dem Bericht oben zu tun, also damit, dass Israels Militär nur noch Menschen erschießt, die ins Meer gehen, weil sie sich anmaßt Menschen sogar das Meer zu verbieten?

  • Weit vor dem 7.10., nachdem die israelische Armee die Infrastruktur samt dem von der EU mitfinanzierten Flughafen zerbombt hatte, wurde der Gazastreifen auch vom Wasser abgeriegelt. Fischer hatten kaum noch eine Chance.



    Jetzt sogar Baden (!)



    Schikane, ick hör di trapsen.

  • das passt zur faschistischen Ideologie der israelischen Regierung: Warnschüsse auf Menschen beim Schwimmen, tödliche Schüsse auf Menschen die hungernd auf Essen anstehen.



    Warschauer Ghetto 2.0

    • @Petros:

      Ist es eigentlich endlich mal möglich die Vergleiche mit der NS-Zeit zu unterlassen? Kritik am israelischen Vorgehen, ja klar, aber warum muß der Vergleich mit dem Warschauer Ghetto sein? Warum?

  • "Baden für Palästinenser verboten!" - "Zutritt für Palästinenser verboten!" - Woran erinnert das nur?