Gaza-Tagebuch: „Papa, ist der Krieg vorbei?“
Unser Autor kann endlich wieder durchatmen, da nun die Waffenruhe im Gazastreifen begonnen hat. Seine Tochter freut sich auf die kleinen Dinge: Süßigkeiten, Eier, Fleisch.

D ie Nacht macht uns keine Angst mehr. Sie erstickt uns nicht mehr und versetzt uns nicht mehr in Schrecken. Die Tage sind warm und wieder voller Leben geworden. Ich komme gerade zurück nach Hause und habe Süßigkeiten für meine kleine Tochter mitgebracht. Es ist genau der Typ, den sie mag. „Wenn du zurückkommst, Papa, bring mir etwas Süßes und Leckeres mit“, hatte sie gesagt. Monatelang konnte ich das nicht tun. Jetzt kann ich es – sogar mehrmals am Tag.
Jetzt kann ich schlafen und über die Zukunft nachdenken. Ich erinnere mich, wie ich früher Anrufe von meinen Freunden im Ausland ignoriert habe – ich wusste einfach nicht, was ich ihnen sagen sollte. Wir stellten uns vor, wir wären ein schwarzer Punkt auf einem weißen Plakat, und versuchten, uns so klein wie möglich zu machen, um dem Radiergummi zu entkommen – um nicht für immer zu verschwinden. Es war ein Kampf ums Überleben.
Aber jetzt rufe ich meine Freunde jeden Tag an. Wir sprechen über Träume, Reisen und eine Zukunft, die noch vor wenigen Tagen nicht zu existieren schien. Ich erinnere mich, dass ich einem Freund erzählt habe, dass ich, als wir vertrieben wurden, die Vorhänge aus unserem Haus mitgenommen habe. Als der Waffenstillstand verkündet wurde und ich nach Hause zurückkehrte, war es dunkel in unserem Haus. Ich beschloss, die Vorhänge erstmal nicht wieder aufzuhängen. Mein Freund brach in Gelächter aus.
Die Nacht, in der der Deal kam
Ich erinnere mich an die Nacht, in der die Zusage für den Waffenruhe-Deal kam: Es war ein Uhr nach Mitternacht.Ich saß auf der Treppe des Gebäudes, in dem wir untergekommen waren, als mein Bruder fragt: „Glaubst du, dass sie es diesmal wirklich tun werden?“ Ich sah ihn an und antwortete: „Ich hoffe es. In unseren Herzen ist kein Platz mehr für eine weitere Enttäuschung.“
Stundenlang verfolgten wir damals die Nachrichten online. Die Stufen fühlten sich kalt unter uns an. Plötzlich brach die Internetverbindung ab. Doch dann durchbrachen plötzlich aus dem Nichts Rufe und Jubel die Kälte der Nacht.
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Wir hatten gedacht, wir wären die Einzigen, die in dieser Nacht wach waren. Doch ganz Gaza wachte mit uns. Wir konnten trotz der Neuigkeiten nicht einschlafen – unsere Gedanken wollten sich nicht beruhigen. Also gingen wir hinunter in die Wohnung der Familie im Erdgeschoss, versammelten uns, umarmten uns, tauschten Worte und Gefühle aus. Ich fragte mich: Würden wir nun nach Hause zurückkehren können?
„Papa, ist der Krieg vorbei?“
Eine lange Stille erfüllte den Raum, bis der Morgen kam.Meine Frau und meine Tochter Elin waren wach und kamen schließlich die Treppe hinunter. Elin rannte auf mich zu, warf ihre Arme um meinen Hals und fragte: „Papa, ist der Krieg vorbei?“Ich lächelte und sagte: „Ja, mein Schatz, er ist vorbei.“
Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.
Sie schrie vor Freude: „Dann kannst du mir jetzt alles kaufen, was ich will? Ich will Pommes, Eier, Fleisch und so viele andere Sachen!“ Wir lachten.
Doch nur wenige Minuten später ertönten Schüsse und Jubelrufe, um das Ende des Krieges zu feiern. Die Schüsse waren so laut, dass Elin mir wieder in die Arme sprang und ängstlich fragte: „Papa, ist der Krieg wieder da?“ Ich beruhigte sie schnell: „Nein, mein Schatz, die Leute feiern nur, dass er vorbei ist.“
Doch in diesem Moment überkam mich ein erschreckender Gedanke: In meinem Land klingt Freude genau wie Krieg.
Aus dem Englischen Lisa Schneider
Muhammad Ghoneim ist Schriftsteller und Komponist aus Gaza. Für seine Kurzgeschichtensammlung „Beyond the Mirrors“ (Jenseits der Spiegel) wurde er mit dem First Book Award der A. M. Qattan Foundation ausgezeichnet. Er erhielt außerdem den Najati Sidqi Award.
Internationale Journalist*innen können seit rund einem Jahr nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.
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