Gedenkstätte für das Dersim-Massaker: Ein Zeichen von Ankommen

Vor 81 Jahren wurden in Ostanatolien rund 70.000 Aleviten getötet. Seit Längerem schon wird über eine Gedenkstätte in Berlin gestritten.

Türkische Soldaten und Bewohner der Dersim-Region

Bewohner der Desrim-Region, bewacht von türkischen Soldaten, kurz bevor sie in andere Landesteile umgesiedelt wurden. (Archivbild von 1938) Foto: Wikipedia

Mahmut Yıldız streicht über seinen Bart und nippt an seiner Tasse. „Sie wühlen ständig in meinem Gedächtnis herum“, sagt der alevitische Geistliche. Dann umfasst er mit beiden Händen fest den Griff seines markanten Gehstocks. Eine Weile sitzt er so da im Café am Heinrichplatz im Berliner Stadtteil Kreuzberg und beobachtet die Passanten draußen.

„Sie“ – damit meint Yıldız Nachkommen von Überlebenden und andere, die sich für die Ereignisse von vor 81 Jahren interessieren. „Mit der Zeit ist mir das Erinnern zur Pflicht geworden.“ Mahmut Yıldız ist einer der letzten Zeitzeugen des Massakers in der ostanatolischen Provinz Dersim in den Jahren 1937/38. Und wenn man den zuweilen nachdenklich, dann wieder heiter bis jovial wirkenden 86-Jährigen nicht mit bohrenden Fragen an seine „Pflicht“ erinnert, schweift er ab, hält Vorträge über die Kultur der Kızılbaş-Aleviten in und um Dersim. „Die Dersimer sind ein naturverbundenes Volk, ihr Glaube ist humanistisch.“

Viele Aleviten in Berlin kennen und respektieren den Dede, wie alevitische Geistliche auch genannt werden. Der Dede aus Kreuzberg hat sich auch zur Lebensaufgabe gemacht, Sprache und Kultur an die jüngere Generation weiterzugeben. Beides wäre mit dem Tod, der Vertreibung und der Assimilierung Tausender Dersimer fast vernichtet worden. Hinzu kommt die Arbeitsmigration Ende der 1960er Jahre. 200.000 Dersimer leben schätzungsweise in Deutschland, viele davon bereits in der zweiten und dritten Generation.

Nach einem langen Seufzer spricht Yıldız alias Mahmut Dede endlich über Details der Ereignisse aus den 1930er Jahren: „Es hieß irgendwann: Der Staat kommt nach Dersim und bringt uns Wege, Brücken und Schulen. Vor allem: Er bringt uns die Freiheit. Das Volk war mehr als bereit für die neue türkische Republik. Es hatte die Dynastie der Osmanen, die Soldaten einzogen und im Gegenzug nichts zurückgaben, satt.“

Yıldız’ Vater war damals Steuereintreiber. Die türkischen Behörden trugen dem pflichtbewussten Staatsdiener auf, die Dorfbewohner zur Abgabe ihrer Waffen zu bewegen. Was diese dann auch taten. Das sollte sich als fataler Fehler erweisen. „Keiner ahnte, dass die Soldaten Schlimmes mit uns vorhatten“, sagt Yıldız .

„Tertele“ – des Tags, an dem die Welt unterging

Es gibt kaum eine Familie aus Dersim, die nicht von dem Massenmord mit bis zu 70.000 Toten direkt oder indirekt betroffen ist. „Darüber öffentlich zu sprechen, war aber bis vor einigen Jahren tabu“, sagt Yıldız. Erst mit Gründung des ersten Kulturvereins der Dersimer im Jahre 1993 in Berlin fanden Gedenkveranstaltungen statt. Irgendwann aber war das nicht mehr genug. Die Dersimer wagten sich aus der Halböffentlichkeit der Vereinsräume. Anfang Mai diesen Jahres gedachten sie im Andachtsraum des Bundestags des 81. Jahrestags der „Tertele“ – des Tags, an dem die Welt unterging: So bezeichnen die Dersimer das Massaker.

Die Gemeinde will seit 2015 mit einem Mahnmal in Kreuzberg auch ein sichtbares Zeichen setzen. Damals wandte sich dessen Vorsitzender Kemal Karabulut an den Bezirk. „Die Dersimer wollen einen würdigen Ort, an dem sie um ihre Großmütter und Großväter trauern können“, meint Karabulut. Grüne und SPD stellten in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Friedrichshain-Kreuzberg einen Antrag auf Errichtung eines öffentlichen Denkmals.

Anfang 2016 kam es zum Eklat in der BVV. National gesinnte türkische Organisationen, darunter die Türkische Gemeinde zu Berlin, protestierten gegen das Mahnmal. „Die Dersim-Kulturgemeinde kann gerne auf ihrem eigenen Grundstück ein Denkmal errichten. Wir wenden uns gegen eines auf öffentlichem Boden“, sagte der damalige Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, Bekir Yılmaz der taz.

Seitdem hält die Debatte im Bezirk an. Im Kern geht es bei dem Konflikt darum, wie die Ereignisse in den Jahren 1937/38 zu bewerten sind: War das ein Genozid? Ein Massaker? Nationalisten sprechen gerne von der Niederschlagung von widerständigen Stämmen. Die vielen Toten seien demnach Kollateralschäden bei der Gründung der modernen türkischen Republik gewesen.

„Als Bezirkspolitiker sind wir mit diesen Fragen überfordert. Das ist Sache der internationalen Politik“, meint Timur Husein von der CDU. Kenan Kolat vom Berliner Zweig der türkischen Oppositionspartei CHP spricht von einer „menschlichen Katastrophe“, nicht aber von einem Genozid. „Die Parlamente anderer Länder wie Deutschland sollten sich nicht in diese innertürkische Auseinandersetzung einmischen.“

Kolat hat dabei auch die Bundestagsresolution zum Genozid an den Armeniern von 2016 im Hinterkopf. Auch diese löste Proteste in der türkeistämmigen Community aus.

War das ein Ge­no­zid? Ein Mas­saker? Türkische Nationalisten sprechen von widerständigen Stämmen

Husein indes will ein mit öffentlichen Geldern errichtetes Mahnmal auch aus anderen Gründen nicht haben: „Ich habe ein Problem damit, dass öffentlich eines Ereignisses gedacht werden soll, das mit Deutschland nichts zu tun hat.“ Wenn dann auch noch andere Gemeinden wie vielleicht die Bosnier oder Kroaten mit einem ähnlichen Wunsch kämen, „würde uns das gänzlich überfordern“, glaubt der CDU-Mann.

Der Streit um das Mahnmal schlug über den Bezirk hinaus hohe Wellen. Selbst der türkische Konsul rief die Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann an. Unter Experten gibt es keine einheitliche Bewertung der Ereignisse von 1937/38, es gibt auch keinen Beschluss, der besagt: Das war ein Genozid.

Entscheidung vertagt

Um den Konflikt nicht noch zu verschärfen, vertagte die BVV die Entscheidung über die Errichtung eines Mahnmals und beschloss, zunächst ein Kolloquium zum Thema Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft abzuhalten. Das fand dann auch Ende letzter Woche statt.

Von einem langen Spaziergang durch Kreuzberg ist Mahmut Dede müde geworden. Zu Hause legt er sich erst einmal aufs Sofa. An der Wand hängen zwei anatolische Langhalslauten, der Dede komponiert und singt alevitische Lieder. Nach und nach entfalten sich aus seinen Erzählungen Bilder des Grauens vor dem Zuhörer.

„Ich war damals sechs. Mein Vater, mein Bruder und ich, wir befanden uns auf der Alm.“ Die Mutter war zusammen mit zwei kleineren Geschwistern im Dorf zurückgeblieben. „Niemand glaubte zu dem Zeitpunkt ernsthaft, dass die Soldaten auch Frauen und kleinere Kinder töten würden.“ Zusammen mit einigen Verwandten und anderen Dorfbewohnern entkamen Mutter und Schwestern nicht den Massenerschießungen. Der Rest der Familie floh vor den anrückenden Soldaten.

Überall tote Tiere und verweste Leichen

„Ich sehnte mich nach einem Bett und nach meiner Mutter. Während sich die Erwachsenen unterhielten, stahl ich mich fort und rannte runter ins Dorf. Was sehe ich? Unsere Tiere waren alle tot. Überall Spuren der Verwüstung.“ Die Überlebenden fanden verweste Leichen, erkannten die Verwandten an den Kleidern und begruben sie noch in derselben Nacht.

Die Teilnehmer des Kolloquiums rangen am vergangenen Donnerstag und Freitag um Ideen, wie eine „inklusive Erinnerungskultur“ aussehen könnte. Gülșah Stapel, Expertin für Erinnerungskultur und Stadtforschung, hat für die Argumente der Gegner des Mahnmals kein Verständnis. „Denkmäler von Eingewanderten sind in anderen Ländern öfters zu finden. Deutsche Denkmäler in Chile zum Beispiel – darunter welche mit der Aufschrift ‚Unseren Kriegsgefallenen‘ – haben mit dem jeweiligen anderen Land auch nicht viel zu tun.“

Beliebig sei eine Denkmalerrichtung dabei nicht. Man müsse gute Argumente haben. „Es ist aber ein Zeichen von Ankommen, wenn die Dersimer ihr Recht auf Erinnerung und damit Teilhabe an der hiesigen Gesellschaft einfordern“, meint Stapel.

In andere Landesteile umgesiedelt

Für Trauer blieb 1938 keine Zeit. Die übrig gebliebenen Dersimer sollten in andere Landesteile umgesiedelt werden. So sah es ein Beschluss des türkischen Kabinetts vom 4. Mai 1937 vor. „Sie sammelten uns ein. Zu Fuß mussten wir zunächst ins benachbarte Elazığ, dann im Zug nach Westanatolien. Die Leute litten unter Hunger und Durst.“ Den Vater haben sie gefoltert, vermutet Yıldız. Nach vier bis fünf Jahren Aufenthalt in Antalya kehrten er und der Rest der Familie zurück nach Dersim.

„Eines Tages machten wir mit der Klasse einen Ausflug an einen nahe gelegenen Wasserfall. Der Lehrer zeigte uns Schädel.“ Es waren die Überreste der 1938 Ermordeten. „Seht, der hier ist von einem Siebenjährigen, der hier von einer Frau.“ Bei diesem Anschauungsunterricht brach der Lehrer weinend zusammen. „Sein Vater wurde auch in der Gegend ermordet“, erfuhr Yıldız später.

Über ein Mahnmal in Berlin würde sich Yıldız freuen. „Ich kann mich an die Maschinengewehrsalben, die Bombenflieger und die Schreie der Menschen erinnern, als wäre das alles vor Kurzem erst passiert.“ Eine Antwort auf die Frage: War das ein Genozid oder Massaker?, konnte und wollte das Kolloquium nicht geben. „Die BVV muss aber bald eine Entscheidung treffen“, meint Werner Heck von den Grünen.

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