Gefängnis Sde Teiman: Ein Ort der Hölle in Israels Wüste
In der Haftanstalt soll ein Gefangener vergewaltigt worden sein, andere verletzt. Ein Häftling und ein Whistleblower berichten von ihren Erfahrungen.
Im Dezember 2023 beginnt das israelische Militär mit seiner Offensive auf das Al-Awda-Spital im Gazastreifen. Krankenhaus-Direktor Ahmad Mhanna, 52 Jahre alt, weigert sich damals, das Krankenhaus zu verlassen. Nach tagelanger Belagerung dringen IDF-Soldat*innen schließlich in das Spital ein und nehmen einen Teil des Personals fest, auch Mhanna.
Erst 686 Tage später kommt er wieder frei, im Oktober 2025, im Rahmen des Waffenruhedeals. Nun sitzt er in einer Wohnung in Gaza, mit der taz spricht er am Handy, die Verbindung bricht immer wieder ab. Im Video sieht er deutlich abgemagert aus. 24 dieser 686 Tage, erzählt Mhanna, habe er in der berühmt-berüchtigten israelischen Haftanstalt Sde Teiman in der Wüste Negev gesessen.
Das US-Medium CNN legte im Mai 2024 in einer Investigativrecherche die Zustände in der Haftanstalt-cum-Militärbasis offen. Viele Medien berichteten, israelische Menschenrechtsorganisationen beantragten die Schließung von Sde Teiman vor dem Obersten Gerichtshof Israels. Im Juni 2024 erklärte Israel seine Absicht, die Gefangenen in andere Haftanstalten verlegen zu wollen. Auch dort sind, wie etwa die taz berichtete, die Haftbedingungen kaum besser.
Ein geleaktes Video zeigt Missbrauch
Die Geschehnisse in Sde Teiman beschäftigten auch die israelische Justiz, bis heute: Im Februar dieses Jahres wurden fünf israelische Soldaten der Reserve angeklagt, weil sie einen Palästinenser in Gefangenschaft in Sde Teiman geschlagen und schwer misshandelt hatten – wohl auch sexuell. Der Häftling trug schwerste Verletzungen davon: gebrochene Rippen, ein Loch im Darm – und ein Riss im Rektum.
Im August 2024 gelangte ein Video des Angriffs an die Presse: Es zeigt, wie Soldaten den Gefangenen umringen, mit Schutzschilden die Sicht behindern – und ihm dann wohl mit einem scharfen Gegenstand ins Rektum stechen. Rechte israelische Politiker sprangen den mutmaßlichen Tätern bei. Und es begann die Suche nach demjenigen, der es geleakt hatte.
Über ein Jahr später ist nun die Militärstaatsanwältin Yifat Tomer-Yerushalmi deswegen zurückgetreten. Sie hatte genehmigt, das Video der Presse zuzuspielen, erklärt sie – und gab als Grund an: Die Rechten hätten auf ihre Ermittlungen wegen sexueller Misshandlung großen Druck ausgeübt. Mit der Veröffentlichung des Materials habe sie „falscher Propaganda gegen die militärischen Strafverfolgungsbehörden“ entgegenwirken wollen.
Zurück zu Mhanna: Neben ihm kamen im Oktober 2025 über 1.700 weitere im Laufe des Kriegs nach dem 7. Oktober 2023 aus dem Gazastreifen festgenommene Palästinenser*innen aus verschiedenen israelischen Gefängnissen frei. Auch über 200 Tote wurden zurückgebracht, davon mindestens 135, die nach Bericht des Guardian Spuren der Folter aufwiesen. Auch gebe es „substanzielle Hinweise“ darauf, dass viele von ihnen hingerichtet wurden. Dokumente in den Leichensäcken wiesen darauf hin, dass die Körper aus der Haftanstalt Sde Teiman kamen. Es sei aber unklar, ob sie dort auch getötet wurden. Denn dort gibt es auch einen Lagerraum für tote Palästinenser.
Ein Whistleblower erhebt schwere Vorwürfe
Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.
Einer, der aber weiß, wie es in der Haftanstalt Sde Teiman zuging, ist Shimon. Er heißt eigentlich anders und will anonym bleiben. In seinem normalen Leben ist Shimon Student eines naturwissenschaftlichen Fachs an einer Universität in einer großen israelischen Stadt. In der Hölle von Sde Teiman arbeitete der junge Mann eine Zeit lang im Schichtdienst in dem Militärgefängnis und dem angeschlossenen Spital als Reservist.
Seine Motivation, der taz über seine Zeit dort zu berichten, erklärt er gleich am Anfang des Gesprächs: Ein Teil von dem, was in diesem Krieg geschehen ist, sei moralisch falsch. Und diene nicht dem Schutz Israels. Handlungen, wie sie in Sde Teiman geschahen, hätten den Konflikt zugespitzt.
Als er damals in der Haftanstalt stationiert wird, ahnt er noch nicht, welche Szenen ihn dort erwarten werden. Männer, Gefangene, in großen Käfigen, Dutzende von ihnen in jedem Käfig. Sie trugen Sportanzüge und Augenbinden, alle in Handschellen. Sitzen mussten sie, still, etwa achtzehn Stunden am Tag. Sprechen durften sie nicht. Nicht mal flüstern. Einige von ihnen sind seit Wochen dort, einige werden Monate an diesem Ort verbringen.
Er erzählt: Die Luft roch schlecht. Auf Toilette durften die Gefangenen nur in Handschellen und mit Augenbinden. Drei Mahlzeiten bekamen sie am Tag: zwei, drei Brotscheiben mit Pastrami oder mit einer Gurke und ein wenig Käse. Sehr geringe Mengen.
Ein Gefangener, von dem man festgestellt hatte, dass er nicht der Hamas angehörte, fungierte als Mittelsmann zwischen Wächtern und Gefangenen. Er protestierte irgendwann, dass sie nicht genug zu essen bekommen. Der Wächter antwortete: „Wir haben es abgezählt und an euch ausgeteilt. Das ist euer Problem.“
Gefangene im Spital von Sde Teiman wurden gefesselt
Shimon beobachtet diese Szene aus der Ferne, erzählt er, außerhalb der Käfige. Wächter und Gefangene waren räumlich voneinander getrennt, die Soldaten trugen Waffen und Munition am Körper, sollten die Gefangenen rebellieren. Das taten sie aber nicht. Wenn jemand sprach oder sich unerlaubt bewegte oder versuchte, durch die Augenbinde zu schielen, wurde er bestraft. Der musste dann mit erhobenen Händen stehen, auf unbestimmte Zeit. Manchmal nahmen der diensthabende Offizier und ein weiterer Soldat den Gefangenen auch mit hinter eine Ecke, wo sie nicht sichtbar sind.
Im Krankenhaus von Sde Teiman war die Lage nicht besser, sagt er. Die Gefangenen trugen Augenbinden, waren ans Bett gefesselt. Sie mussten Windeln tragen, konnten sich wochenlang nicht bewegen. Und sie wurden medizinisch vernachlässigt. Ihnen wurden kaum Schmerzmittel verabreicht, und wenn, dann rezeptfreie Mittel – als ob sie nur an milden Kopfschmerz litten. Dabei hatten sie Schusswunden, abgerissene Stücke Fleisch oder amputierte Beine oder Arme, sagt Shimon.
Einmal, erzählt er, sieht er einen älteren Mann, der Herzprobleme hat. Welche, darüber wird unter Ärzten spekuliert. „Wären wir in einem richtigen Krankenhaus, würden wir es wissen. Aber wir hatten die Ausstattung hier nicht“, sagt einer. Israelische Krankenhäuser nähmen nur sehr widerwillig Gazaner auf.
Im Krankenhaus sah man manchmal die Auswirkungen der körperlichen Gewalt der Wärter, erzählt Shimon weiter. Ein Patient wurde eingeliefert, die Krankenschwester sagte: „Die gebrochene Rippe steht nicht in den Akten.“ Ein Patient hatte eine schwere Verletzung an Handgelenk, man konnte die Sehnen sehen. Auf die Frage, was ihm geschehen sei, sagte der Wächter: Er sei beim Verhör eben in Handschellen gewesen. Viele dieser Verletzungen seien zu frisch gewesen, um aus Gefechten in Gaza stammen zu können.
Soldaten hätten ihm zwei Rippen gebrochen, sagt Mhanna
Als Reservist bleibt Shimon nur ein paar Wochen in Sde Teiman. Und als er die Haftanstalt bereits verlassen hat, wird Mhanna aus dem Gazastreifen dorthin gebracht.
Am 17. Dezember, erzählt er, kam er dort an. Und bleibt 24 Tage, danach wird er in das Gefängnis Ketziot verlegt. Er erzählt von Sde Teiman: Der Raum, in dem er dort festgehalten wurde, war etwa 150 Quadratmeter groß. Es war kalt – Winter in der Wüste. Trennwände gab es keine, die Matratzen waren dünn, Decken bekamen die Gefangenen nicht. Etwa 135 Menschen saßen in diesem Raum mit ihm, schätzt er. Jeder hatte demnach nur etwas mehr als einen Quadratmeter zur Verfügung. Dünn angezogen waren sie für die kalten Wintertemperaturen, sagt er.
Seine Berichte decken sich mit denen von Shimon: Sie trugen Augenbinden und Handschellen, die ganze Zeit. Stehen war verboten, sie mussten sitzen. Zu essen bekam Mhanna pro Tag zwei Brotscheiben mit ein wenig Käse oder Thunfisch.
Auf dem Weg von Gaza nach Sde Teiman hätten Soldaten ihm zwei Rippen gebrochen, sagt Mhanna. Als er sich in den Militärjeep gesetzt hatte, an Füßen und Händen gefesselt, hätten sie begonnen, ihn zu schubsen und auf den Oberkörper zu schlagen. Einen Arzt habe er bei seiner Ankunft in Sde Teiman trotzdem nicht besuchen dürfen.
Immer wieder wurde er verhört, erzählt er. Die Vernehmer benutzten psychologische Tricks, sagt er: Drohungen, um ihn unter Druck zu setzen. Dass sie seine Frau und seine Tochter ebenso nach Sde Teiman bringen würden. Und sie vor seinen Augen missbrauchen. Die physische Misshandlung sei hingegen minimal gewesen, sagt er, nur einmal habe er durch Schläge einen Zahn verloren. Wieso er damals festgenommen wurde, das wisse er bis heute nicht. Er verneint, Verbindungen zu politischen Parteien oder Organisationen zu haben. Auf Nachfrage äußert sich das israelische Militär nicht konkret zu Mhannas Fall.
Die zwei Phasen in Sde Teiman
Die taz hat mit drei israelischen Menschenrechtsorganisationen über Sde Teiman gesprochen. Alle waren sich einig: Die Misshandlung von palästinensischen Gefangenen hatte System. Nach dem 7. Oktober waren Gefängnisse in Foltercamps umgewandelt worden. Die Organisation Physicians for Human Rights (PHRI) hat mit israelischen Whistleblower*innen, vor allem Ärzt*innen, gesprochen und das Camp auch besucht.
Naji Abbas ist Direktor der Abteilung Gefangene bei PHRI. Er sagt: „Allen, allen, 100 Prozent der Menschen, die dort festgehalten wurden, begegneten Gewalt, Folter, Schläge. Wöchentlich, manchen täglich. Für uns ist das ein Foltercamp.“ Sde Teiman sei durch zwei Phasen gegangen: In den ersten zehn Monaten seien Gefangene mit Augenbinde und in Handschellen gehalten worden, teilweise monatelang. Hunger und Gewalt waren an der Tagesordnung, teilweise sogar Vergewaltigungen. „Wir wissen, dass Dutzende getötet wurden“, betont Abbas. PHRI habe Fälle von zu Tode geprügelten Männern dokumentiert wie auch Fälle medizinischer Vernachlässigung, die zum Tode führte. Über zwei solche Fälle berichtete auch die taz mit Bezug auf PHRI.
Dann passierte etwas. Im Herbst 2024, nach den Petitionen und den Medienberichten, auch dem geleakten Video, begann sich die Lage zu ändern. Die Gefangenen hätten nicht mehr 24 Stunden am Tag in Handschellen verbringen müssen. Ihnen wurde eine Dusche pro Woche erlaubt. Zellen wurden aufgebaut. Eine Verbesserung, sagt Abbas. Doch die Zustände blieben weiterhin harsch: Gefangene berichteten auch danach noch von physischer Gewalt, bis heute.
Shimon, der israelische Whistleblower, sagt: Die Erfahrung in Sde Teiman habe ihm „das wahre Gesicht dieses Kriegs gezeigt“. Nach dem Massaker des 7. Oktobers 2023, das die israelische Gesellschaft tief erschütterte, habe sich die Stimmung in Israel verändert: Die Bereitschaft zur Gewalt sei gestiegen. Dinge, die früher unvorstellbar gewesen wären, würden nun einfach hingenommen: Nicht im Eifer des Gefechts, sondern in einer kontrollierten Militärbasis mit integrierter Haftanstalt sah Shimon ein System der „vollkommenen Grausamkeit“.
Auch Mhanna bleibt wütend. Er ist nun wieder ein freier Mann, in einem noch unfreien Land in Trümmern. Er sagt, es gehe ihm gut, weil es seiner Familie gut geht, weil sie den fürchterlichen Krieg im Gazastreifen überlebt haben. Sein Zuhause sei aber zerstört – seine Heimatregion, Zentralgaza, liegt in Schutt und Asche, wie auch Teile seiner Wohnung. In der israelischen Haft habe er 30 Kilo verloren, Krätze bekommen, erzählt er. „Ich hasse sie“, sagt er, „weil sie uns wie Tiere behandelt haben.“
Was sagt das Recht zu den Zuständen in Sde Teiman?
Das israelische Militär weist alle Vorwürfe von sich: Man handle „im Einklang mit israelischem und internationalem Recht und schützt die Rechte von Menschen in Haft unter seiner Verantwortung. Jeglicher Missbrauch von Gefangenen, sei es in Gewahrsam oder beim Verhör, verletzt das Gesetz sowie die IDF-Richtlinien und ist somit streng verboten.“ Man lehne sämtliche Anschuldigungen von systematischem Missbrauch von Insassen ab – inklusive Bezichtigungen der sexuellen Gewalt.
Doch selbst die Festnahme von Zivilisten ist eigentlich nicht rechtens. Christoph Safferling ist Professor für internationales Völkerrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er betont: „Artikel 9 des UN-Menschenrechtspaktes verbietet Festnahmen ohne richterliche Anordnung“, so Safferling. Man könne sie eventuell – wenn es sich um feindliche Kämpfer handelt – als Kriegsgefangene festhalten, solange der Konflikt laufe. Doch Zivilist*innen sind damit nicht mitgemeint. Folter sei unter keinen Umständen erlaubt.
Der Minimalstandard für die Behandlung von Gefangenen findet sich im Artikel 3 der Genfer Konvention von 1949: keine Ermordung, Verstümmelung, Folter und grausame Behandlung.
Mitarbeit: Lisa Schneider
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