Geflüchtete und Ressentiments: Der Riss durch Deutschland

Mit den Geflüchteten kamen die Ressentiments. Der aufkeimende Hass vergiftet auch das soziale Umfeld und zerstört Familien.

Die Asylbewerberunterkunft in Ludwigshafen am Rhein

Eine Asylbewerberunterkunft in Ludwigshafen am Rhein Foto: Erik Irmer

LÜNEBURG/HAMBURG taz | Als das Schuljahr im Spätsommer 2015 in beginnt, fragt die Lehrerin, ob es ein aktuelles Thema gäbe, über das die SchülerInnen mit ihr sprechen wollten. Marc Fleischmann hat gerade erst in die elfte Klasse des beruflichen Gymnasiums 1 in Lüneburg gewechselt. Er meldet sich. „Über die Flüchtlingskrise sollten wir sprechen“, findet er. Da weiß Marc Fleischmann noch nicht, wie sehr sie ihn selbst treffen wird.

Ein gutes Jahr später steht die Herbstsonne über Lüneburg. Marc Fleischmann führt über den Schulhof, einmal um das Backsteingebäude mit dem Flachdach herum. Hinter der Schule steht die Turnhalle. „Hier waren die Flüchtlinge untergebracht“, erzählt Fleischmann und deutet auf einen modernen Bau, keine hundert Meter vom Eingang der Schule entfernt.

Marc Fleischmann hat seine kurzen Haare aufgestellt. Während er über den vergangenen Herbst spricht, blickt er ein wenig schüchtern durch seine schwarze Brille. „Da gab es schnell die ersten Gerüchte. Dass die Flüchtlinge beim Kiosk klauen oder Mädchen angrabschen“, erinnert er sich.

Auch in Fleischmanns Klasse gibt es Vorurteile. Mehr noch, einige seiner MitschülerInnen werden ausfällig, machen sich lustig. Für ihn ist das schwer auszuhalten. Die Ressentiments, die dummen Sprüche, die durch den Klassenraum schallen, sie gelten den Geflüchteten in der Turnhalle. Doch vor allem treffen sie ihn. Er widerspricht. Und wird gemobbt. Der Gang zur Schule wird für ihn zunehmend zur Qual.

Es geht ein Riss durch Deutschland

Dass Marc Fleischmann Rassismus nicht egal ist, merkt man sofort. Der Achtzehnjährige engagiert sich in der Grünen Jugend in Uelzen, wo er wohnt. Wenn er von Politik spricht, verschwindet das Jungenhafte an ihm. Als „progressiven Linken“ versteht er sich. Kretschmann, Palmer, das sind für ihn „Ultra-Realos“. „Ob die überhaupt noch grün sind – na ja.“ Sein Vokabular ist nicht das eines Schülers. Der vorsichtige Gang und die Winterschuhe mit Klettverschluss wirken wie Understatement.

„Die kriegen ja alles in den Arsch gesteckt“, sagt ein Mitschüler

Es geht ein Riss durch Deutschland. Er zeigt sich im öffentlichen Diskurs, der in Fernsehtalkshows oft vor allem der Darbietung persönlicher Anfeindungen dient. Man sieht den Riss bei den Land- und bald auch den Bundestagswahlen, bei denen die AfD immer mehr Zustimmung erfährt.

Vielleicht aber, das wird bei der Recherche schnell klar, ist der Riss abseits der Öffentlichkeit noch tiefer. Viele, die sich engagieren, berichten, dass die eigene Familie oder Freundschaften zerbrechen. Oder eben die Schulklasse: je näher die Menschen, desto tiefer die Spaltung. Schon deshalb lohnt der Blick auf den Alltag derer, an denen das Weltgeschehen nicht unbeachtet vorbeirast, die sich in dieser Zeit wie Marc Fleischmann engagieren, demonstrieren oder einfach das Geschehen nicht hinnehmen wollen.

„Asylantrag abgelehnt!“

In Lüneburg sind es von Fleischmanns Schule nur zehn Minuten bis in die Altstadt. Er geht an den malerischen Altbauten vorbei, kramt sein Telefon hervor und zeigt Screenshots aus der WhatsApp-Gruppe seiner Klasse aus dem letzten Winter. Ein paar Hänseleien gegen ihn. Eine Bildmontage, auf der Angela Merkel im Kopftuch zwischen den Penissen zweier dunkelhäutiger Männer kniet. Dann ein Schwarz-Weiß-Bild. Es zeigt einen Wehrmachtssoldaten, der auf Menschen schießt, die vor ihm auf der Straße liegen. „Asylantrag abgelehnt“, steht darunter.

„Ich wollte nicht juristisch dagegen vorgehen, dann wäre ich ja noch mehr an den Rand gedrängt worden“, erzählt Marc Fleischmann. „Die haben vor mir Witze über Flüchtlinge gemacht, um mich zu provozieren.“ Zu Beginn des Schuljahrs fühlte er sich noch gut aufgehoben, mit zwei, drei SchülerInnen freundete er sich gar an. Doch irgendwann wenden auch die sich von ihm ab. „Da war ein Mädchen dabei, dessen Mutter von Hartz IV lebt“, erinnert sich Fleischmann. „Als die Flüchtlinge kamen, hatte sie Angst, dass sie noch weniger Geld haben werden. Sie hat mich nicht verstanden, und der Kontakt brach ab.“

Kurz vor Weihnachten trifft sich die Klasse zum Frühstück. Er schlägt vor, die übrigen Brötchen in die Turnhalle zu bringen. Ein Klassenkamerad lacht ihn aus und schmeißt die Brötchen in den Müll: „Die kriegen ja alles in den Arsch gesteckt.“

Das ist zu viel für ihn. Marc Fleischmann verlässt aufgewühlt den Unterricht. Die Weihnachtsferien verbringt er in einer Klinik. Im Anschluss müht er sich durch den Rest des Schuljahrs. Seine MitschülerInnen sollen nicht von der Depression erfahren. Wenn diskutiert wird, mischt er sich nicht mehr so oft ein, das haben ihm auch die Ärzte geraten. Heute ist das Thema weniger präsent, ein Teil der Klasse hat das Schuljahr nicht geschafft, und so fällt es ihm wieder leichter herzukommen: „Ich weiß, dass die mich nicht mögen, und die wissen, dass ich sie nicht mag.“

Ein gutes Jahr wird Marc Fleischmann noch zur Schule gehen. Doch er denkt schon weit darüber hinaus. „Wie kann man diesen Hass eindämmen? Wie können wir als Gesellschaft wieder zusammenfinden?“ Das sind die Fragen, die sich Fleischmann an diesem Vormittag in Lüneburg stellt. Und er meint, die Schuldigen für den Hass zu kennen: „Wir müssen was gegen die Leute machen, die diese Stimmung verbreiten.“ Ob er sich in Zukunft weiter engagieren, nach seinem Volkswirtschaftsstudium vielleicht Politiker werden möchte, hätte man ihn eigentlich nicht fragen müssen.

Die Hetze aus der eigenen Familie

Ein paar Kilometer nördlich, in Hamburg, betritt Tania Ellinghaus ein portugiesisches Café. Den Latte Macchiato bringt der Besitzer ungefragt. Sie ist Ende vierzig, sie trägt einen Pony, spricht selbstbewusst und viel. Auch Ellinghaus lebt seit einiger Zeit nahe am Riss. Eigentlich verstand sie sich gut mit ihrer älteren Schwester. „Herzlich war das Verhältnis zu ihr“, erzählt sie. Doch als letzten Sommer immer mehr Geflüchtete nach Deutschland kommen, beginnt ihre Schwester Hassbotschaften und Artikel des neurechten Compact-Magazins zu posten.

„Bemerkt hat das erst meine Tochter, die rief mich schockiert an, und dann haben wir beraten, was wir tun können“, berichtet Ellinghaus. Sie selbst hilft in der Flüchtlingsarbeit hier und da aus, steht auf einer Warteliste für die Aufnahme minderjähriger Geflüchteter. Ihre Tochter, die sie allein großgezogen hat, studiert in Süddeutschland und war selbst an der österreichischen Grenze, um Geflüchteten zu helfen. Die Hetze aus der eigenen Familie trifft die beiden. Ellinghaus’ Tochter schreibt einen Brief an ihre Tante und erntet nur Unverständnis und Häme.

Die verstoßene Schwester

Wie ihr geht es vielen Menschen, die sich in der Flüchtlingsfrage engagieren oder äußern. Doch bei Tania Ellinghaus ist es bereits das zweite Mal, dass sie sich von ihrer Schwester verstoßen fühlt. Die beiden sind in der DDR aufgewachsen. Ellinghaus jedoch flüchtete 1988 nach Hamburg. Gegen die gerade ausgelernte Laborantin wurde ein Berufsverbot verhängt, nachdem sie sich weigerte für die Stasi zu spionieren. Für ihre Schwester und ihren Schwager, der bei der Stasi arbeitete, war das Verrat. Jahrelang hatte Ellinghaus keinen Kontakt zu ihrer Schwester. Nur langsam besserte sich das Verhältnis zu den beiden. „Das Krasse ist ja“, meint Ellinghaus, „dass sie den Flüchtlingen heute dasselbe vorwirft, wie mir damals: dass wir unser Land und die Familie im Stich lassen.“

Mit ihren Eltern kann Ellinghaus immerhin noch sprechen, wenn auch nicht über Politik. Wenn sie von dem Riss erzählt, der durch ihre Familie geht, bleibt Ellinghaus nie lange beim Thema. Sie schweift schnell ab, sucht in langen Monologen nach Ursachen für den Hass ihrer Schwester.

Dann beginnt ihre Schwester Artikel des rechten „Compact“-Magazins zu posten

Wieso sind wir so unterschiedlich geworden? Da ist die Wendezeit, die ihrer Schwester, der technischen Zeichnerin, und ihrem Schwager, dem Stasioffizier, den Beruf kostete. Davon haben sie sich nie wirklich erholt. Ist da ein Bruch zwischen Ost und West? Wie kommen wir wieder zueinander?

Eigentlich heißt Tania Ellinghaus gar nicht so. Auch die Namen ihrer Tochter und ihrer Schwester sollen hier keine Rolle spielen. Denn sie will nicht noch mehr rütteln an der Verbindung, die da vielleicht noch irgendwo ist. Ellinghaus würde gern wieder ein normales, ja überhaupt ein Verhältnis zu ihrer Schwester aufbauen. Das Gefühl des Verstoßenseins schmerzt. „Das damals verstehe ich noch. Doch dass sie uns jetzt verstößt, heißt, dass sie uns in unserem freien Handeln beschneidet“, sagt sie. „Es ist meine Energie und mein Geld. Das kann ich vergeuden wie ich will.“ Tania Ellinghaus klingt fast ein wenig verzweifelt.

Letztens wurde sie am Knie operiert. Ihre Tochter war gerade mit dem Freund zu Besuch. Ellinghaus erinnert sich: „Im Krankenhaus habe ich gesagt, meine Familie holt mich ab. Da habe ich gemerkt: Ja, krass, die beiden sind jetzt meine Familie. Meine Tochter und ihr Freund.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.