„Gelbwesten“-Protest in Frankreich: Révolte toujours

Die „Gelbwesten“ wühlen Frankreich auf – auch am Samstag wieder. Was als Aufstand von Autofahrern begann, ist zum Klassenkampf geworden.

Fußballfans mit einem Gelbwesten-Transparent

Sie sind überall: Gelbwesten-Solidarität bei einem französischen Fußball-Erstligaspiel Foto: dpa

PARIS taz | Brennt Paris? Die Bilder von fliegenden Pflastersteinen, Tränengas, brennenden Autos, beschmierten Häusern und beschädigten Denkmälern haben voriges Wochenende die Franzosen aufgewühlt. Und nicht nur die Franzosen.

La plus belle avenue du monde, so nennen sie in Paris die Champs-Élysées, wurde zum Schauplatz von bürgerkriegsähnlichen Szenen. Die Wucht, mit der die Gilets jaunes, die Gelbwesten, Frankreich überrannt haben, verbreitet Angst. Angst vor weiterer Eskalation an diesem Wochenende. Eine mulmige Spannung liegt über der Stadt. Ein bizarres Gefühl, dass sich hier etwas zusammengebraut hat, was niemand mehr stoppen kann, selbst nicht 100.000 Sicherheitskräfte.

Wieder werden die Champs-Élysée umkämpft sein. Der Triumphbogen trug vor einer Woche die Aufschrift: „Die Gelbwesten werden triumphieren“. Aber um welchen Preis? Eine erneute Erstürmung des Wahrzeichens wäre für den Staat, für Macron und seine Regierung ein unkalkulierbares Risiko. Es geht viel um Symbole in diesen Tagen.

Auf den Champs-Élysées treffen Frankreichs Geschichte und Gegenwart zusammen, die Straße ist Symbol für Luxus und Savoir-vivre. Von Louis Vuitton bis zum Nobelrestaurant Le Fouquet’s, der Boulevard ist in diesen Tagen geschmückt mit prächtiger Weihnachtsbeleuchtung.

Hier läuft, nein flaniert man zwei Kilometer von der Place de la Concorde, wo einst die Königsfamilie guillotiniert wurde, bis hinauf zum Arc de Triomphe, wo zur Erinnerung an den Ersten Weltkrieg am Grab des unbekannten Soldaten die Ewige Flamme brennt. Als über der Straße vergangenen Samstag eine Tränengaswolke hing, fühlten sich viele ältere Franzosen an den Mai 1968 erinnert.

La France périphérique

Einen solchen Ausbruch an Gewalt hätte beim Amtsantritt Macrons im Mai 2017 selbst der pessimistischste Beobachter nicht prophezeit, auch wenn mit Widerstand, vor allem linker Gruppen, gegen den Reformeifer des Präsidenten gerechnet wurde. Damit wären wir bei einem bekannten Frankreich-Klischee: Sind diese Franzosen nicht schon immer unfähig zu Reformen gewesen, aber schnell dabei, wenn’s darum geht, Revolutionen anzuzetteln?

Die Bilder des Pariser Aufstands ­täuschen, wenn man verstehen will, was hinter den Gelbwesten steckt. In Wahrheit geht es um das Aufbegehren eines anderen Frankreichs, das la France périphérique genannt wird, das Provinz-Frankreich. Weit weg von den Pariser Eliten, deren Handeln die Menschen wie eine einzige Nabelschau empfinden.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Zur Erinnerung: Mitte November kochte der Ärger hoch. In ländlichen Gebieten protestierten Tausende Menschen mit Straßensperren gegen die geplante Benzinsteuererhöhung. Ihr Erkennungszeichen: die gelbe Warnweste, die jeder Autofahrer für den Notfall griffbereit im Auto haben muss. Es war die Geburtsstunde dessen, was von nun an als die Bewegung „Gilets jaunes“ bezeichnet wird.

Das Argument, man müsse mit Steuererhöhungen die Energiewende beschleunigen verhöhnen die Gelbwesten als elitär. Gerade sie, die für die Fahrt zur Arbeit, zum Einkaufen oder zum Arzt auf das Auto angewiesen sind, sollen jetzt dafür herhalten, dass smoggeplagte Pariser, denen ausreichend Metros, Busse und Züge zur Verfügung stehen, den Klimawandel stoppen wollen. Hinzu kommt der Zorn über Macrons Steuerpolitik für Spitzenverdiener. Vor einem Jahr antwortete der Präsident auf die Kritik an der Abschaffung der Vermögensteuer, er werde dem „traurigen Reflex des französischen Neides“ nicht nachgeben. Ein Satz, der vielen Geringverdienern grotesk abgehoben vorkam.

Die neue Protestfarbe Gelb

Es geht nicht um Neid, es geht um die Angst vor dem weiteren sozialen Abstieg. Von welchem Geld sollen sie sich ein neues, energiesparendes Auto kaufen? Wie kann es sein, dass die Regierung ihnen rät, auf die Bahn umzusteigen, obwohl durch die Reform der Staatsbahn viele Linien in der Provinz vom Verschwinden bedroht sind? Wieso verwaisen in den Innenstädten zuhauf Ladenflächen, während große Handelsketten ihre Mega-Märkte ohne einschränkende Auflagen auf der grünen Wiese errichten können? Die Gelbwesten fühlen sich machtlos gegen die Verödung ihrer Regionen, gegen ihre sinkende Kaufkraft. Von Macrons Versprechen, es gehe vorwärts, spüren sie nichts. Keine Reform hat bislang ihr eigenes Leben spürbar verbessert.

Die Bewegung der Gelbwesten war anfangs im Grunde genommen unpolitisch, oder besser gesagt: politisch-pluralistisch. Wähler von Le Pen standen an der Seite von Wählern des Linken Jean-Luc Mélenchon und neben enttäuschten Macron-Wählern. Die Tatsache, dass die Bewegung keinen tatsächlichen Anführer hat, zeigt, dass ihre Anhänger der derzeitigen Form politischer Repräsentation zutiefst misstrauen.

Von Beginn an versuchten das linke wie das rechte Lager, sich die neue Protestfarbe Gelb auf die Fahnen zu schrei­ben. Doch die Bewegung in ihrem spontanen, unkontrollierbaren Wesen entwischt immer wieder – der Politik, den Journalisten, Intellektuellen und Soziologen. Uns allen.

Jene Menschen, die auf die Champs protestieren kommen, gehen weder bei Vuitton shoppen noch bei Fouquet’s dinieren. Sie wohnen nicht in den umliegenden Vierteln, sondern im riesigen Speckgürtel der Metropole oder in der Provinz. Nun zieht es sie genau in diese Komfortzonen des Bürgertums, zu den Symbolen der Republik, von der sie sich verraten fühlen.

Die verhasste Staatsmacht schwächen

Von dem Sommermärchen, der nationalen Euphorie über den Weltmeistertitel der Équipe Tricolore, der im Juli Zehntausende Menschen an gleicher Stelle versammelt hatte, ist nichts mehr zu spüren. Auch ihre Fußballhelden gehören letztlich zu jenen Superreichen, die Macron für die Abschaffung der Vermögensteuer dankbar sein können. Von wegen Gleichheit und Brüderlichkeit. Betrachtet man Einkommensunterschiede, die Arbeitslosenzahlen und die prekären Anstellungsverhältnisse vor allem junger Franzosen, dann ähneln die herrschenden Verhältnisse eher einem Klassenkampf von oben.

Von Beginn an versuchten das linke wie das rechte Lager, die neue Bewegung für sich zu reklamieren. Doch die entwischt immer wieder

Wenn Gleichheit und Brüderlichkeit abhandenkommen, bleibt nur noch die Freiheit. Die Freiheit, seinem Ärger Luft zu machen. Die Freiheit, auf die Straße zu gehen, Flagge oder besser: Weste zu zeigen. Dass sich radikale Gruppen von links und rechts in diesen Tagen auch die Freiheit herausnehmen, Chaos zu stiften, wundert nicht. Für sie ist es eine hervorragende Gelegenheit, die verhasste Staatsmacht zu schwächen.

Randalierender Mob, extremistische Gruppen – so versuchte die Regierung die Ausschreitungen zu erklären. Doch schaut man sich an, wer die Hunderte Festgenommenen der bisherigen Proteste sind, stellt man fest: Auch Handwerker, Arbeiter, Unternehmer, Angestellte waren in die Gewaltszenen verwickelt. Menschen, die nie zuvor durch besondere Radikalität aufgefallen sind.

Der Versuch von Premierminister Édouard Philippe, den Dialog mit den Gelbwesten zu suchen, war von vornherein ein schwieriges Unterfangen. Denn wer vertritt hier wen? Mit welcher Legitimation? Einige Gelbwesten, die sich gesprächsbereit zeigten, erhielten Morddrohungen und sagten ihre Teilnahme an den Gesprächen ab, Hochspannung auch innerhalb der gelben Reihen. Andere verfassten einen 42-Punkte-Plan, in dem etwa die Erhöhung des Mindestlohns und der Renten, eine Mietpreisbremse, die Wiedereinführung der Vermögensteuer gefordert wird. Ähnlichkeiten mit Programmen Mélenchons und anderer linker Strömungen sind unübersehbar.

Romy Straßenburg, 35, arbeitet seit über 10 Jahren als Journalistin in Paris. Sie war unter dem Pseudonym Minka Schneider Chefredakteurin der deutschen Charlie-Hebdo-Ausgabe. Im Februar erscheint ihr Buch „Adieu liberté“ im Ullstein Verlag.

Um die Bewegung zu besänftigen, sagte die Regierung die Preiserhöhungen bei Kraftstoff und Strom schließlich ab. Aber reicht dieser Löschversuch in letzter Minute, um gegen den schwelenden Flächenbrand zu kämpfen, der an diesem Samstag noch zerstörerischer aufflammen könnte? Und bei dem mittlerweile Verletzte oder gar Tote befürchtet werden, nachdem ein Vertreter der Bewegung in einem Fernsehinterview dazu aufgerufen hat, den Élysée-Palast zu stürmen?

Was auch immer an diesem Wochenende passiert: Der Aufstand der Gelbwesten, dieser schwer zu fassenden Bewegung, die viel Sympathie im ganzen Land gefunden hat, führt Frankreichs Regierung die immense Unzufriedenheit vor Augen, die sich über Jahre und Jahrzehnte angestaut hat. Der arrogante Habitus Macrons, der nur noch im Ausland für Jugendlichkeit und Tatendrang bewundert wird, hat die Wut nur noch verstärkt. Verstärkt wurde für diesen Samstag dann auch das Personal der Notaufnahmen in Paris.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.