Gender und Wissenschaft: „Die Datenlücke tötet Frauen“

Der männliche Körper gilt als Norm für die Wissenschaft. Das benachteiligt Frauen vielfach. In der Coronapandemie schadet es aber auch Männern.

Crashtest-Dummies in einem Auto

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau beim Autounfall stirbt, ist 17 Prozent höher als bei einem Mann Foto: Casar Benson/fStop/imago

taz: Frau Criado-Perez, von der Gender Pay Gap haben die meisten Menschen schon gehört. Sie schreiben über die „Gender Data Gap“. Was verbirgt sich dahinter?

Caroline Criado-Perez: Die „Gender Data Gap“ beschreibt, wie wir historisch Daten gesammelt haben und es weiterhin tun. Ob in der Wirtschaft, in der Medizin, am Arbeitsplatz, in der Stadtplanung oder in der Technik: Der männliche Körper und die männliche Lebenserfahrung werden als universell verstanden. Doch fast alle Daten lassen sich nicht einfach auf Frauen übertragen.

Was folgt daraus für Frauen und deren Alltag?

Das können Kleinigkeiten sein, wie das Design einer Sonnencreme-Sprühflasche, die zu groß ist für die durchschnittliche Hand einer Frau. Oder die Temperaturregulierung in Büros. Viele Frauen haben die Erfahrung gemacht, dass sie im Büro frieren, während Männer die Temperatur als angenehm empfinden. Die Formel der perfekten Raumtemperatur für Büros wurde in den 60ern anhand der Stoffwechselrate eines durchschnittlichen 40-jährigen Mannes von 70 Kilogramm erstellt. Nun haben aber Untersuchungen gezeigt, dass die Stoffwechselrate von Frauen signifikant niedriger ist. Normale Büros sind also im Schnitt 5 Grad zu kalt für Frauen.

Frieren ist unangenehm, aber ist die Datenlücke gefährlich?

Die Datenlücke macht Frauen ärmer, kränker und tötet sie. Ein Beispiel dafür sind Autounfälle. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau ernsthaft verletzt wird, ist 47 Prozent höher, und dass sie stirbt, 17 Prozent höher als bei einem Mann, der den gleichen Unfall hätte. Das liegt daran, wie Autos designt sind und dass Crashtest-Dummies an einen Durchschnittsmann angelehnt sind.

Wann sind Sie zum ersten Mal auf die Datenlücke aufmerksam geworden?

Caroline Criado-Perez, geboren 1984 in Brasilien, ist Journalistin und Aktivistin und lebt in London. Für ihr feministisches Engagement wurde sie mit dem Britischen Ritterorden OBE ausgezeichnet. Sie ist Autorin von „Unsichtbare Frauen“, 2020, btb Verlag.

Das war bei der Recherche zu meinem ersten Buch, als ich über Herzinfarkte gelesen hatte. Für mich war das etwas, das mittelalte Männer haben und deren Symptome Schmerzen in Brust und im linken Arm sind. Doch in meiner Recherche habe ich ­gelernt, dass Frauen meistens eher Symptome wie Übelkeit, Verdauungsprobleme und Müdigkeit haben. Ich war schockiert. Wie konnte es sein, dass ich noch nie davon gehört hatte? Auch hier ist die Ursache des Problems, dass es zu wenig Forschung gibt. Das Ergebnis ist, dass Frauen in Groß­britannien zu 50 Prozent häufiger eine falsche Diagnose bekommen, wenn sie einen Herz­infarkt haben, und damit eine höhere Sterblichkeit haben. Unsere Gesellschaft geht davon aus, dass Wissenschaft vollkommen neutral, objektiv und basierend auf Fakten ist. Doch viele Fakten und Daten sind diskriminierend.

Woher stammt diese Datenlücke? Wollen Männer Frauen sterben sehen?

Nein, natürlich nicht. Die Gender Data Gap folgt keiner bösen Absicht, sondern ist schlicht das Ergebnis eines Denkens, das seit Jahrtausenden vorherrscht.

Wie kann diese Lücke verkleinert werden?

Repräsentation ist ein Teil der Antwort, denn Studien, die von Frauen angeleitet wurden, haben häufiger Geschlecht als einen Analysepunkt. Doch Repräsentation allein reicht nicht, ein anderes Mittel muss die Regulierung sein. Wir müssen die Menschen dazu zwingen, Frauen zu berücksichtigen. Studien werden aufwendiger und teurer, wenn Frauen mitbeachtet werden müssen. Doch nur am Anfang. Irgendwann zahlt es sich aus, wenn weniger Frauen verletzt sind oder sterben.

Sie schreiben in Ihrem Buch von „den Frauen“. Kann man die weibliche Bevölkerung als eine homogene Gruppe verstehen?

Natürlich gibt es Unterschiede, die Sozialisierung spielt bei vielen Fragen eine große Rolle. Aber Daten, die nach race, Geschlecht und Klasse differenziert sind, gibt es extrem selten: Dabei sind intersektionale Daten lebensrettend.

„Wir müssen mehr Daten sammeln und vor allem intersektional betrachtete Daten“

Inwiefern?

Beim Beispiel des Herz­infarkts zeigt sich, dass Frauen mit niedrigerem sozioökonomischen Hintergrund eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit haben, einen Herzinfarkt zu haben, als Frauen mit einem höheren Einkommen. Oder: In den USA haben afroamerikanische Frauen eine 243 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, beim Gebären zu sterben, als weiße Frauen. Selbst afroamerikanische Frauen der Mittelklasse sterben weitaus häufiger als weiße Arbeiterinnen. Armut ist also nicht allein der Grund für die hohe Sterblichkeit. Um aber herauszufinden, welche Rolle Rassismus dabei spielt, braucht es Studien.

Die Lösung ist also, wir müssen mehr und differenzierte Daten erheben?

Ja, wir müssen mehr Daten sammeln und vor allem intersektional betrachtete Daten. Und in beidem sind wir bisher sehr schlecht. Auch über non-­binary Menschen gibt es kaum Daten, eine Lücke, die definitiv gefüllt werden muss. Ähnlich ist es bei trans Personen. Wir wissen beispielsweise zu wenig darüber, wie trans Menschen, die Hormone zu sich nehmen, auf Medikamente und Krankheiten reagieren.

2013 haben Sie erfolgreich dafür gekämpft, dass eine Frau auf dem 10-Pfund-Schein gedruckt wird. Die Reaktionen waren Hass und Hetze gegen Sie im Netz. Wie waren die Reaktionen auf Ihr Buch?

Mit wenigen Ausnahmen war das Feedback sehr positiv. Viele fanden es augenöffnend. Das hat mir Hoffnung gemacht, dass wir Fortschritte machen. Doch dann kam Corona. Und ich sehe, wie wir zu Gewohntem zurückkehren, nämlich Frauen auszuschließen.

Leiden Frauen stärker an Corona als Männer?

Unter sozioökonomischen Aspekten auf jeden Fall. Der Zugang zu Abtreibungen wurde vielerorts erschwert, schwangere Frauen werden alleingelassen, sie müssen mehr unbezahlte Care-Arbeit übernehmen. Für Frauen, die in einer heterosexuellen Partnerschaft sind, ist es wahrscheinlicher, dass sie in Teilzeit arbeiten, beurlaubt oder entlassen werden. Und die Auswirkungen davon dürften langfristig sein. Außerdem nimmt auch die Zahl der häuslichen Gewalt in Lockdown-Situationen zu. Das alles sind frustrierende Fakten, denn die Zustände waren vorhersehbar.

Aktuell sterben weltweit vermehrt Männer an Covid-19 statt Frauen. Liegt das auch an den fehlenden Daten?

Auf jeden Fall, in Großbritannien gibt es keine Daten dazu, welche Rolle Geschlecht bei den Symptomen spielt. Wie viele Männer und Frauen haben sich testen lassen? Wie viele der positiv getesteten sterben? Diese Zahlen braucht es, um die Frage beantworten zu können, warum Männer eher daran sterben. In der Pandemie zeigt sich, wie problematisch es ist, dass wir in der Vergangenheit keine Daten über die medizinische Gesundheit von Frauen erhoben haben. Sonst wüssten wir jetzt vielleicht, warum das weibliche Immunsystem Covid-19 anscheinend besser bekämpfen kann, und könnten auf diesem Wissen aufbauend eine bessere Behandlungsmethode entwickeln. Doch auch im gesundheitlichen Sinne leiden Frauen an bestimmten Stellen mehr als Männer in der Pandemie.

Inwiefern?

Viele Pflegerinnen haben mir erzählt, dass ihnen die Schutzausrüstung im Krankenhaus nicht passt, denn auch diese wurde nach der männlichen Norm designt. Persönliche Masken gab es nicht, und die standardisierte passte vielen nicht, und das, obwohl ein Großteil der Pflegerinnen weiblich ist. Es sind also Frauen, die sich um uns kümmern sollen, aber wir kümmern uns gar nicht um ihre Sicherheit.

Wie können wir in der Pandemie einen Backlash für Frauen verhindern?

Das hängt in erster Linie davon ab, wie ernst Regierungen das Thema nehmen. In Großbritannien vermute ich leider, dass weiter der Weg der Sparmaßnahmen gegangen wird und öffentliche Dienstleistungen noch mehr gekürzt werden, was die Situation für Frauen noch viel schlimmer machen wird.

Was sollte als Erstes angegangen werden?

Ein wichtiger Punkt ist die Frage von Kinderbetreuung und Schule. In Großbritannien wird sich nur wenig um die Sicherheit der Lehrer gekümmert. Deswegen ist es verständlich, dass diese Sorge haben, wieder zur Schule zu gehen. Das heißt, Schutzmaßnahmen müssen berücksichtigt werden. In Dänemark beispielsweise bekommen die Lehrenden FFP-Masken. Generell ist es wichtig, dass die Regierung Expert:innen mit unterschiedlichen Hintergründen und Perspektiven miteinbezieht. In Großbritannien sind es ein Haufen weißer Männer, die durch die Coronakrise führen sollen. Die haben schon einige Fehler gemacht. Als es um die finanzielle Nothilfe ging, wurden Selbstständige und Frauen in Mutterschutz zuerst nicht bedacht. Wieder wurden Frauen also einfach vergessen.

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