Gert Postel analysiert einen Hochstapler: Der falsche Traumschiff-Arzt

Drei Jahre Haft: Am Montag fiel das Urteil über einen Krankenpfleger, der sich als Aida-Schiffsdoktor ausgab. Eine Analyse aus echter Expertenhand.

Stethoskop schaut aus der Tasche eines Arztkittels

Was hat er Böses getan? Niemand ist gestorben Foto: imago/Westend61

Vor gut 100 Jahren schrieb Hugo von Hofmannsthal sein Gedicht „der Schiffskoch, ein Gefangener, singt“. Die Berliner Öffentlichkeit beschäftigt sich seit Wochen nicht mit einem Schiffskoch, sondern mit einem Schiffsarzt. Auch der ist gefangen und auch er „singt“, allerdings nicht allein in seiner Zelle, sondern vor dem Landgericht Berlin. Ob man seinem Gesang trauen darf, das ist hier die Frage.

Denn er ist gar kein richtiger Arzt, sondern ein Krankenpfleger aus Stendal im Sachsen-Anhaltinischen. Vor fünf Jahren beschloss er, sein Dasein als Krankenpfleger sei seinen wirklichen Talenten nicht angemessen. Er fälschte Zeugnisse, Promotions- und Approbationsurkunden (copy and paste) und bewarb sich als Facharzt für Anästhesie in der Bundeshauptstadt.

Sein Motiv war nicht etwa Geld oder Status. Nein, er wollte „nur“ helfen. Er war als Anästhesist bei ambulanten Operationen tätig, dann bei den Organtransplanteuren, allerdings in der ungefährlicheren Abteilung für Organbeschaffung, quasi der Fleischerei dieser insgesamt hochprofitablen Unternehmung, und schließlich als Schiffsarzt auf einem Kreuzfahrtschiff der Aida-Reederei, wo kerngesunde ältere Zahnärzte ihre Implantathonorare verfrühstücken.

Dass er sich seine Anstellungen erschlichen hat, dass er Urkunden gefälscht, dass er vermutlich Honorare und Gehälter im Bereich einer halben Million betrügerisch erlangt hat und dass er das zurückzahlen muss mit allen Schikanen, die die Vorschriften über Verfall und Einziehung heute bereit halten, steht außer Frage.

Alle Patienten sind wieder aufgewacht

Die wirkliche Frage ist die, ob er die Gesundheit anderer gefährdet hat. Diese Frage hat offensichtlich auch die Oberstaatsanwältin Ina Kinder, die Herrin der Medizinabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft, so bewegt, dass sie die Sache vor das Landgericht gebracht hat.

Nun, was hat er Böses getan?

Niemand ist gestorben.

Die Anästhesien, die er „betreute“, sind nicht ins Auge gegangen. Alle Patienten sind wieder aufgewacht.

Die Krankenschwestern, die er bei der Organtransplantation unterrichtete, fanden ihn „gut“.

Der falsche Arzt ist am Montag in Berlin zu drei Jahren Haft verurteilt worden. Das Landgericht sprach den 41-Jährigen unter anderem der gefährlichen Körperverletzung, des Titelmissbrauchs sowie des Betrugs schuldig. Der gelernte Krankenpfleger hatte sich fünf Jahre lang als Anästhesist und Intensivmediziner ausgegeben. Zuletzt war er als Schiffsarzt auf einem Aida-Kreuzfahrtschiff tätig. Zuvor hatte er sich mit gefälschten Dokumenten eine Anstellung bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation und als Dozent erschlichen. Der geständige Angeklagte hatte außerdem 41 Narkosen durchgeführt. (dpa)

Trotzdem fragt man sich, warum jemand, der unbedingt Arzt spielen will, sich ausgerechnet das Gebiet der Anästhesie und Intensivmedizin aussucht, ein Gebiet, bei dem es ja am allerehesten akut um Leben oder Tod geht und wo die ärztliche Verantwortung besonders gefragt ist.

In ersten Kurzinterviews habe ich gesagt, der Herr aus Stendal habe den Tod seiner Patienten billigend in Kauf genommen. Das ist Ausdruck einer populistischen Übertreibung, denn ein Tötungsvorwurf ist ihm nicht einmal als Vorwurf des Versuchs gemacht worden. Aber es ist schon richtig, dass, wenn durch sein Verschulden jemand ums Leben gekommen wäre, ein solcher Vorwurf berechtigt gewesen wäre.

Diese Bedenkenlosigkeit, auf einem so gefahrgeneigten Gebiet ohne Absicherung zu agieren, dürfte bei der Zumessung der Strafe keine geringe Rolle spielen.

Andere Hochstapler dulden, fällt schwer

Dass ich mit dem Krankenpfleger aus Stendal zunächst so hart ins Gericht gegangen bin, hat mehrere Gründe: Als nicht mehr aktiver „Elder Statesman“ der Hochstaplerzunft – eine Rolle, in die ich mühsam hineingewachsen bin – sehe ich mich doch mehr als früher dem Gemeinwohl verpflichtet. Andere Hochstapler neben mir, auf gleicher Ebene zu dulden, fällt mir schwer (ich sehe unter den Lebenden auch keinen). Bestimmte Alleinstellungsmerkmale (zum Beispiel meine praktische Kritik der Psychiatrie als Scheinwissenschaft) möchte ich nicht gefährdet sehen.

Deshalb interessiert mich das Motiv des adretten Schiffsarztes.

Vielleicht dachte er, er kann es genauso gut wie ein Facharzt. Er hat Erfahrung. Er ist jung.

Als nicht mehr aktiver „Elder Statesman“ der Hochstaplerzunft sehe ich mich doch mehr als früher dem Gemeinwohl verpflichtet.

Viele Patienten mit nicht so leistungsfähigen Versicherungen lassen sich sowieso lieber vom Oberarzt operieren. Der hat auch Erfahrung, zittert noch nicht und will noch was werden. Warum nicht vom Oberarzt noch ein paar Stufen runtergehen?“

Vielleicht hat der Herr aus Stendal in der Notaufnahme erlebt, wie der Assistenzarzt erst aus seinem Notbett nach dem dritten Nachtdienst in Folge hervorgeklingelt werden musste, wie er als diensthabender Pfleger erst mal alles allein stemmte. Und dann kommt so ein grüner Junge noch bleich vom Studium und gibt „Anweisungen“, die er auswendig kann.

Vielleicht hat unser Schiffsarzt bei Notfällen erlebt, dass die neueren Defibrillatoren ihre Kommandos an die Einsatzkräfte mit synthetischer Stimme selbst geben. Da ist nichts mehr von Professor Dr. Sauerbruch: „Schwester, Tupfer!!“ et cetera.

Die DDR bildete „Halbärzte“ aus

Es könnte also sein, dass unser Angeklagter aus Stendal eigentlich insgeheim ein Vorkämpfer für die Abschaffung der Approbation, für die radikale uneingeschränkte Kurierfreiheit ist.

Das wäre so abwegig nicht:

Als das Vorbild Mao Tse-tung in Deutschland noch etwas gegolten hat, also zum Ende der Studentenbewegung, als die marxistisch-leninistischen Parteien glaubten, im Kommen zu sein, als ernsthafte junge Menschen andächtig die deutsche Ausgabe der Pekingrundschau (auf hauchdünnem, in Albanien bedruckten Papier) studierten, ging ein Begriff durch die linken Zirkel an den deutschen Universitäten: die Barfußärzte!

Mao hatte sie eingeführt: in der Regel Bauern, die nach einem höchstens zweimonatigen Lehrgang die Leiden der Landbevölkerung, meist mit Mitteln der altchinesischen Medizin, zu kurieren hatten. Laienmedizin, volksnah, keine Apparatemedizin, keine Halbgötter in Weiß, Demokratisierung der Medizin, Abbau von Herrschaft.

Und die Feldschere in der sowjetischen Armee, Soldaten mit kleinem Lehrgang, wie vielen Verwundeten hatten Sie im ersten Zugriff das Leben gerettet?

Selbst die DDR bildete – für die Entwicklungsländer – „Halbärzte“ aus, das ging schnell und billig, und Herz-Lungen-Maschinen konnten „die da unten“ sowieso nicht recht brauchen.

Oder mag sich unser falscher Arzt aus Stendal gesagt haben: Hippokrates, Avicenna und Paracelsus hatten ja auch keine Approbation? Wir wissen es nicht. Er hat sich zu seinem „politischen Programm“ nicht geäußert. Es ist auch möglich, dass er keines hatte.

44 Mal angeklagt, 44 Mal freigesprochen

Dafür spricht die Geschichte, wie er aufflog: Er soll bei der Berliner Ärztekammer beantragt haben, ihm einen neuen Ärzteausweis auszustellen, in dem für ihn als zweiter Vorname „Cato“ eingetragen war, einen Namen, den er sich bloß zugelegt hatte, weil er ihm gefiel.

Ob er diesen Namen als magische Beschwörung seiner Unverwundbarkeit eingetragen haben wollte, muss leider eine Spekulation bleiben. Unverwundbarkeit deshalb, weil Cato der „Ältere“, derjenige, der nicht oft genug sagen konnte, dass er der Meinung sei, dass Karthago zerstört werden müsse, in seinem Leben 44 Mal angeklagt und 44 Mal freigesprochen worden ist.

Dass jemand die Gefahren des Entdecktwerdens traumtänzerisch gering schätzt oder bereit ist, sie in Kauf zu nehmen, um sich den Wunsch einer eindrucksvolleren Selbstpräsentation zu erfüllen, spricht doch für eine narzisstische Störung von nicht geringem Ausmaß. Ohne Krankheitswert, weil nicht behandelbar (sagen wir Gerichtspsychiater).

Diese Einschätzung wird auch unterstützt durch die Tatsache, dass er sich bereits vor Aufnahme seiner Tätigkeit auf den Aida-Kreuzern in einem Kündigungsschutzprozess über 30.000 Euro erstritt, in der sicheren Überzeugung, dass ihm mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses Unrecht geschah. Diese Frechheit benötigt die Überzeugung, dass ihm mittlerweile zustehe, was er sich erschlichen hat. Das bedeutet, dass die Distanz zu seiner angemaßten Rolle bei ihm nach und nach vollständig weggefallen ist.

Tatmotiv: Hebung des Sozialprestiges

Man fragt sich natürlich auch, weshalb die Berliner Organtransplanteure den freundlichen Herren aus Stendal so mir nichts, dir nichts eingestellt und mit 7.500 Euro im Monat versorgt hat. Die im Prozess von den Getäuschten abgegebene Erklärung, er habe so hervorragende Zeugnisse und Beurteilungen gehabt, ist leider zirkulär. Ich persönlich vermute eher, dass man dem schüchternen, freundlichen Herren mit ein paar kritischen Fragen nicht zu nahe treten wollte.

In meiner Typologie der Hochstapler ist das ein gewöhnlicher Fall von Medizinhochstapelei: auf seinem Gebiet ein relativ kenntnisreicher Täuscher, Sozialprognose leider nicht ganz günstig. Seine Abschirmung im Prozess vor der Presse eröffnet Wiederholungsmöglichkeiten. Man weiß weder, wie er aussieht, noch wie er heißt. (Meine relative Bekanntheit war, bevor ich mich sittlich gefestigt hatte, eine sichere Rückfallprophylaxe).

Die Sozialprognose des Herren aus Stendal wäre besser, wenn man ihn Medizin studieren ließe, aber das wird nicht geschehen, weil er zu große Schulden hat, wegen des Numerus Clausus und weil seine Verurteilung ein Approbationshindernis darstellt. Vielleicht steht ja auch das Abitur noch aus.

Tatmotiv: Hebung des eigenen Sozialprestiges und Verbesserung der Verdienstmöglichkeiten. Die Dankbarkeit der Patienten, die man gerettet hat, fällt bei den Notfall- und Intensivmedizinern ungerechterweise häufig allein dem Arzt zu. Auch das eine Quelle von Ressentiments.

Und unser Interesse an ihm?

Der fesche ­falsche Schiffsarzt, der die Herzen der stolzesten Zahnarztwitwen bricht. Organ­transplantation mit Laien, Professor Barnard oder Professor Scharlatan, das war hier die Frage, das hat uns erregt.

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Der Autor: Der Bremer Briefträger Gert Postel war auf einer Ärzteparty und dachte sich: „Das kann ich auch!“ Unter dem Namen Dr. Dr. Clemens von Bartholdy wurde er daraufhin als Amtsarzt in Flensburg, als Arzt in einer Privatklinik, als Stabsarzt bei der Bundeswehr, als Obergutachter beim BGH und als Oberarzt in einer psychiatrischen Klink tätig. Dort kreierte er ein neues Krankheitsbild: „Die bipolare Depression dritten Grades nach Postel“.

Die Strafe: 1999 wurde er als Hochstapler zu vier Jahren Haft verurteilt.

Das Wirken: 2003 veröffentlichte er das Buch: „Doktorspiele“. 2007 ehrte ihn die Antipsychiatriebewegung, weil er mit seinem „Postel-Experiment“ die Hohlheit der psychiatrischen Diagnostik und Behandlung entlarvt habe. Mehr von ihm: @PostelGert, gert-postel.de

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