Gescheiterter Warntag: Nicht nach Kichern zumute

Probealarme gehörten für mich in der Vergangenheit zum Alltag. Der Warntag letzte Woche war ein Reinfall, viele waren amüsiert, ich beunruhigt.

Verlernt man nicht: Übung zur Verteidigung eines Atom- und Luftschlags im Oktober 1983 in Neukalen Foto: imago images

Immer mittwochs in der fünften Stunde hielten wir uns die Ohren zu. Wir saßen an unseren Tischen in einer Ostberliner Polytechnischen Oberschule, natürlich wussten wir, dass an diesem wie an jedem Mittwoch Probealarmtag ist – und trotzdem fuhr uns das Geräusch zuverlässig in die Knochen. Eine Minute schwoll der Sirenenton an und ab, und wenn sechzig Sekunden um waren, spürten wir die Stille wie warmen Schaum in unsere Ohren kriechen.

Jahrzehnte später, genauer gesagt am vergangenen Donnerstag, sollten ja bekanntlich deutschlandweit die noch verbliebenen Sirenen getestet werden. Passiert ist, nach allem, was man weiß, so gut wie nix. Selbst in unserer benachbarten kleinen Kleinstadt im Brandenburgischen blieb es still. Dabei haben wir intakte Sirenen. Jeden Samstagmorgen um zehn senden sie ihren hohen Ton über die Mark – es ist der Dienst am Kriegsgott versunkener Zeiten.

Meine Eltern hatten seine Melodie in ihrer Kindheit noch als Abmarschbefehl in den Luftschutzkeller erfahren. Wir ostdeutschen Babyboomer lernten die Signalsprache dann im Zivilverteidigungsunterricht. Feueralarm, Katastrophenalarm, Atomalarm, chemischer Alarm, Entwarnung – manche Sachen verlernt man nie.

Die Zeiten sind angespannt

Dass letzte Woche alle so ein bisschen kicherig drauf waren, nachdem sich zum verabredeten Zeitpunkt nichts getan hatte, verwundert mich. Mag sein, ich bin da irgendwie ostdeutsch deformiert; aber ich fände es schon in Ordnung, wenn es funktionierende Sirenen und Warnsysteme gäbe. Die Zeiten, sie sind angespannt. Nach Kichern ist mir jedenfalls nicht zumute – egal ob es die schweigenden Sirenen, die inaktiven Warn-Apps auf meinem Handy oder – wie im Frühjahr – das Fehlen von Schutzmasken und Desinfektionsmitteln ist. Ich hätte gern das Gefühl, dass da jemand den Ernstfall für mich mitbedenkt, damit ich das nicht andauernd tun muss.

Es reicht ja, sich jenes Gefühl zu vergegenwärtigen, das sich einstellt, wenn man auf der Autobahn in einen Riesenstau fährt. Wäre es nicht beruhigend, zu wissen, was los ist? Wo der Unfall ist, was man gegebenenfalls tun kann, wie lange es ungefähr dauert? Man sucht statt dessen hektisch im Autoradio den lokalen Sender und muss minutenlange Werbejingles durchleiden, bis eine Frauenstimme unangemessen fröhlich erklärt, wo der Unfall sich ereignet hat. „Rechnen Sie mit neunzig Minuten zusätzlicher Fahrzeit! Und jetzt – Musik von Phil Collins!“

Nichts soll uns spüren lassen, dass sich da vorne in der Blechlawine gerade komplette Biografien wenden, dass Leben enden. Dass da Schmerz ist. Statt dessen Discofox aus den Achtzigern und ein wenig Polstermöbelwerbung. Dass am Donnerstag der letzten Woche nichts gestört hat, weil Vater Staat seine Angelegenheiten nicht geregelt kriegt, finde ich jedenfalls ziemlich beunruhigend.

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1965, ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie berichtet vor allem über die Unionsparteien und die Bundeskanzlerin.

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