Geschichtsrevisionismus in Russland: Doppelte Wahrheit

Polen erwartet am Gedenktag zum Kriegsbeginn vor 70 Jahren ein Schuldbekenntnis Moskaus. Doch stattdessen hörte es Rechtfertigungen und Gegenvorwürfe.

Angela Merkel (l), Jadranka Kosor (Kroatien) und Donald Tusk (Polen) beim Gedenken auf dem Westerplatte-Friedhof in Danzig. Bild: dpa

"In den 1930er-Jahren waren Polen und Deutsche übereingekommen, die Sowjetunion zu isolieren", erklärte am Dienstag der russische Geheimdienstgeneral Lew Sozkow in Moskau. Zum 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs präsentierte der russische Auslandsgeheimdienst einen Dokumentenband, der beweisen soll, dass die Vorkriegsregierung in Warschau Mitschuld am deutsch-russischen Angriffskrieg auf Polen im September 1939 trug. "Wir hatten damals ein Agentennetz in Warschau, das uns diese Geheiminformationen besorgt hat", so Sozkow.

Parallel zu der Pressekonferenz in Moskau rief der russische Premier Wladimir Putin in der polnischen Ostseestadt Sopot zur Versöhnung zwischen Polen und Russland auf. Während des Zweiten Weltkriegs seien Polen und die Sowjetunion Waffenbrüder im Kampf gegen den Faschismus gewesen. "Sicher gibt es Probleme in der Geschichte, die wir klären sollten (…), damit sich derartige Tragödien nicht wiederholen", so Putin. Wenn es um die Zukunft gehe, sei jedoch ein "neuer Pragmatismus" in den zwischenstaatlichen Beziehungen gefragt.

Dem dienten auch die drei polnisch-russischen Abkommen, die gestern unterzeichnet wurden. Darunter ein Vertrag, mit dem das Frische Haff nach jahrelanger Blockade wieder für Schiffe geöffnet wird. Moskau hatte die Ostseebucht, durch die die polnisch-russische Grenze verläuft, im Mai 2006 ohne Vorwarnung geschlossen. Begründet wurde diese Maßnahme mit dem Auslaufen alter Verträge nach dem Beitritt Polens zur EU.

Doch nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit beherrschte die Gespräche in Sopot. Polnische Kommentatoren warfen Putin "doppeltes Spiel" vor: Während er in Polen von Versöhnung und historischer Wahrheit spreche, werde zur gleichen Zeit in Moskau ein Buch vorgestellt, das dem seit Wochen geführten russischen Propagandakrieg gegenüber Polen neue Nahrung gebe. General Sozkow behauptete, dass Stalin durch die Isolierungspolitik Polens und anderer westlicher Staaten geradezu zum Pakt mit Hitler gezwungen worden sei. Ähnliche Verträge mit Hitler hätten ja auch andere Staaten geschlossen, selbst Polen im Jahre 1934. Sozkows Ausführungen wurden in Polen live übertragen und von Zeithistorikern kommentiert. Die angeblichen "Geheimnisse der polnischen Außenpolitik" werden dort seit Jahren breit und auch selbstkritisch diskutiert.

"Enthüllt" hat General Sozkow, dass 1938 Polen zusammen mit den Nazis in die Tschechoslowakei einmarschiert sei und sich das Teschener Gebiet einverleibt habe. Zudem habe Warschau verhindert, dass die Sowjetunion ihren Beistandsverpflichtungen gegenüber der Tschechoslowakei nachkommen konnte. Als Putin diese Version Sozkows in Sopot wiederholte, antwortete ihm Polens Premier Donald Tusk: "Große Nationen, und das sind zweifellos die Polen und die Russen, müssen die Wahrheit nicht fürchten. Und nur von großen Nationen kann man die Bereitschaft zu völliger Offenheit erwarten."

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