Gesundheitsversorgung in Griechenland: Arm und krank – ein Todesurteil

Ärzte und Krankenpfleger arbeiten kostenlos in der Sozialklinik von Ellinikos. Denn die Patienten haben weder Geld noch eine Versicherung.

in der Ellinikos-Klinik

Eine Freiwillige sortiert Medikamente für die Ausgabe an Bedürftige in der Ellinikos-Klinik. Foto: Reuters

ATHEN taz | Die Lieblingsgeschichte von Christos Sideris geht so: Ein junger Mann erkrankt an Blutkrebs. Wie viele Menschen in Griechenland ist er ohne Job, unversichert, der Zustand kritisch. Zwei Frauen, ebenfalls Leukämiepatientinnen, aber versichert, hören von dem Fall.

Abwechselnd verzichten sie insgesamt drei Wochen lang auf ihre Medikamente und geben diese dem jungen Mann. In der Zwischenzeit setzen Aktivisten durch, dass der staatliche Gesundheitsdienst die Therapie bezahlt. Der Mann überlebt. „Das ist hier wirklich passiert. Und das ist die Definition von Solidarität“, sagt Sideris und klingt wie ein Schwimmtrainer, der den Teamgeist seiner Mannschaft lobt.

Sideris, Ende dreißig, Glatze, lachsfarbenes Hemd, ist einer der Ärzte der Metropolitan Community Clinic in Ellinikou (MKIE), einem Außenbezirk im Süden Athens. Aktivisten betreiben hier eine von rund 45 alternativen Kliniken im Land: eine Art Bürgergesundheitswesen, jenseits des Markts, auf dem sich viele nichts mehr leisten können und jenseits des Staats, der von der Troika stranguliert wird; so jedenfalls sieht es Sideris.

Um 48 Prozent ist der Etat für das öffentliche Gesundheitswesen durch Sparauflagen und Rezession geschrumpft, heißt es im Gesundheitsministerium. „Hier ist die Frontlinie des Krieges, den die EU gegen das griechische Volk führt“, sagt Sideris.

Doch während sich die Regierungen in Athen und den übrigen Hauptstädten Europas schwere diplomatische Gefechte liefern, geht es an diesem Nachmittag in der Klinik ruhiger zu als in den meisten normalen Krankenhäusern. Es riecht nach Desinfektionsmittel, am Eingang telefonieren zwei Damen, drei Patienten sitzen ihnen gegenüber auf einer Bank.

Spenden aus aller Welt

„Geld nehmen wir nicht“, sagt Sideris – nicht von Patienten und auch nicht von Spendern. Im Netz steht exakt, was gebraucht wird. Wer helfen will, bestellt das.

Eine Krankenschwester führt zwei junge Schweizer umher. Sie wollen einen Marathon laufen, um Geld für die Klinik zu sammeln, die Krankenschwester zeigt ihnen einen Raum, in dem eine kanadische Pharmazeutin an einem Tisch steht und Medikamentenspenden untersucht.

300 Ehrenamtliche arbeiten im MKIE, ein Drittel von ihnen ist medizinisch ausgebildet. 10 Stunden täglich hat die Klinik geöffnet, 1.100 Patienten kommen im Monat. Der einstöckige Flachbau mit rosa Wänden gehört der Regionalverwaltung. „Geld nehmen wir nicht“, sagt Sideris – nicht von Patienten und auch nicht von Spendern. Im Netz steht exakt, was gebraucht wird. Wer helfen will, bestellt das.

Im MKIE gibt es einen Behandlungsraum für Zahnärzte, einen für Gynäkologen, einen für Gastroenterologen, einen für Herzuntersuchungen. Die Geräte kommen entweder von Spendern in Ländern wie Deutschland oder von verrenteten Fachärzten in Griechenland. Hinten links leitet gerade ein Therapeut die Selbsthilfegruppe für Langzeitarbeitslose. „Die Krise macht viele Leute psychisch krank“, sagt Sideris. Ärzte, die in staatlichen Krankenhäusern arbeiten, kommen nach Feierabend her. Schwerkranke werden im Netzwerk unbürokratisch an Krankenhäuser verteilt.

„Die Tumoren, die wir hier sehen, gibt es sonst fast nur noch im Lehrbuch“, sagt Sideris. Außer in Griechenland komme es in Industriestaaten nicht mehr vor, dass Patienten ihre Therapie für mehrere Monate unterbrechen und die Wucherungen ungestört wachsen können. Doch rund 3 Millionen Griechen haben mittlerweile keine Krankenversicherung mehr. Und so bleibt vielen Lebenden nur noch die Solidarität der Toten.

30 Tabletten für 2.887 Euro

Sideris läuft in die Apotheke der Klinik, es ist ein fensterloser Raum im Zentrum, der nichts von der sterilen Kühle von Krankenhäusern hat, sondern mit bunten Wänden, übervollen Regalen und Plastikkörben dem Materiallager einer Pfadfindergruppe gleicht.

Er beugt sich runter, greift ins unterste Fach des Regals mit den Krebsmedikamenten. „Wertvoller als Gold“, sagt er und reicht eine Schachtel herauf. Sie sieht aus, als seien es Kopfschmerztabletten.

Jede Tablette enthält jedoch 150 Milligramm des Wirkstoffs Erlotinib, der das Wachstum von Lungentumoren hemmt. 30 Tabletten, der Hersteller Roche verkauft sie unter dem Handelsnamen Tarceva, kosten 2.887,67 Euro. Der einstige Besitzer starb vor zwei Wochen, bevor er die letzten 12 Tabletten aufbrauchen konnte. Seine Frau brachte die halb leere Packung in die Klinik.

Sideris sucht weiter. Imatinib für Leukämiepatienten, Handelsname Glivec, Hersteller Novartis. 60 Stück à 100 Milligramm, 1.816,59 Euro, er reicht eine kleine Schachtel herauf und dann noch eine viertel volle Großpackung. Sie enthielt 90 Glivec-Pillen mit je 400 Milligramm Wirkstoff. Marktpreis: 10.109,22 Euro. „Arm zu sein und krank ist wie ein Todesurteil“, sagt Sideris.

Alternative Wirtschaftsformen haben sich seit Beginn der Krise in Griechenland verbreitet, als seien es Pilzsporen, genährt vom Elend der Rezession: regionale Märkte ohne Zwischenhändler, Tauschringe, Umsonstläden oder eben die Bürgerkliniken. Aktivisten wie Sideris sprechen mit solchem Stolz von ihren Projekten, als wollten sie der Troika sagen: Seht her, euer Geld hat uns nur Unglück gebracht, aber jetzt haben wir etwas viel Besseres.

Aber wie tragfähig sind Kliniken, die vor allem vom Bodensatz einer zwar überlasteten, aber keineswegs kollabierten Struktur leben? Was, wenn das Land tatsächlich zahlungsunfähig wird und sich ein Vielfaches an Patienten vor den Türen der Alternativkliniken drängt? Fünf Sechstel aller Medikamente muss Griechenland importieren. Was, wenn der Staat keinen Euro mehr hat, um auf dem Weltmarkt für die Kranken einzukaufen, die noch versichert sind?

„Ich wage es nicht mal, darüber nachzudenken“, sagt Kathi Apostolidis. Die ältere Dame hat zwei Brustkrebserkrankungen überlebt, danach ist sie Funktionärin für Krebspatienten geworden. Ihr Büro liegt in der Nähe der US-Botschaft in Athen. Bis sie alle Patientenorganisationen aufgezählt hat, denen sie vorsteht, ist ihre Sekretärin mit dem angebotenen Wasser zurück.

„Die Vorräte, die wir haben, reichen für ein paar Wochen“, sagt sie. Der Direktor des Verbands der Europäischen Pharmafirmen habe versichert, man werde auch nach einem Staatsbankrott weiterliefern. Apostolidis glaubt ihm nicht. „Das machen die eine Woche oder zwei“, sagt sie. „Danach ist Schluss. Wenn die nicht bezahlt werden, schicken die gar nichts mehr.“

Klare Diagnostik

Die Krebspatienten seien schon jetzt von der Sparpolitik am schwersten getroffen worden. Ihre Behandlung erfordere teure Diagnostik, teure Geräte, teure Medikamente. „Am Anfang konnte mancher noch aus eigener Tasche zahlen. Aber die, die heute noch Jobs haben, hatten Lohneinbußen von mehr als einem Drittel.“

Letztlich, sagt Apostolidis, sei sie „gegen die sozialen Kliniken“. „Sie entlasten das Gesundheitssystem, es spürt den Druck nicht mehr so stark.“ Dann hält sie kurz inne. „Andererseits kann man die Leute natürlich nicht einfach sterben lassen.“

Wenn es um Diagnosen oder Metastasen gehe, gebe es keine Alternative zur Fachklinik, sagt Apostolidis. Sonst aber seien die Patienten in den alternativen Kliniken nicht in schlechten Händen. Und die übrigen versuchten die Aktivisten mit politischem Druck in die Regelversorgung zu bringen. „Manchmal haben sie damit auch Erfolg.“ Doch in den Krankenhäusern herrsche Chaos. „Viele Ärzte sind in den Privatsektor gegangen, Tausende ins Ausland.“

11.000 Ärzte sind gegangen

Um genau zu sein: 11.000. „Die meisten in die USA, ein Siebtel ist seit Beginn der Krise nach Deutschland“, sagt Panos Papadopoulos. Bei dem Referatsleiter im Gesundheitsministerium geht es leger zu. Neun Stunden vor der offiziellen Staatspleite läuft in seinem Vorzimmer die Pressekonferenz von Angela Merkel im TV, drinnen sitzt Papadopoulos mit Wanderschuhen im Büro. Nie muss er eine Zahl im Computer nachschauen, er dreht sich mit Drum-Light-Tabak Zigaretten. Die sozialen Verwerfungen der Sparauflagen gerinnen bei ihm zu Arithmetik.

Allerdings nicht alle. Wie viele Opfer hat die Austerität unter Griechenlands Kranken gefordert? Er winkt ab. „Es gibt viele Geschichten, aber keine Zahlen.“ Niemand habe die Diabetiker gezählt, denen mangels Insulin Arme und Beine amputiert wurden, niemand die Patienten, die wegen Karies so lange Schmerztabletten genommen haben, bis ihre Nieren versagten, sagt er.

„Die staatliche Statistikbehörde ist praktisch nur noch mit Schulden und Finanzen befasst.“ Genau dokumentiert sei nur der Anstieg der Suizidrate.

„Es ist eine Lüge, dass wir hier einen aufgeblähten öffentlichen Gesundheitssektor hatten“, sagt Papadopoulos. Letztes Jahr konnte er für die Krankenhäuser noch fast 1,7 Milliarden ausgeben, dieses Jahr sind es gut 1,3 Milliarden Euro. „Das reicht bis Oktober.“ Den Rest des Jahres gibt es kein Budget mehr. Rund 250 Millionen Euro bräuchte er zusätzlich, damit die Kliniken das Jahr durcharbeiten könnten.

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