Gewalt am Berliner Hauptbahnhof: Wo Arm gegen Arm kämpft

Am Hauptbahnhof teilen sich die Straßenzeitungsverkäufer das Geschäft nach Nationen auf. Gewalt ist alltäglich – und schwer zu ahnden.

Hartes Pflaster für Straßenzeitungsverkäufer: Der Platz vor dem Hauptbahnhof Foto: dpa

Bei Gerichtsprozessen bekommt man bisweilen Einblick in Welten, die in der Regel verschlossen bleiben. Beispiel Berliner Hauptbahnhof: Vielen Reisenden wird aufgefallen sein, dass sich dort in den vergangenen Jahren immer mehr bettelnde Menschen aufhalten, die Straßenzeitungen verkaufen – oder auch froh sind, wenn man ihnen einen Euro gibt und keine Zeitung nimmt. Doch woher sie kommen, wie sie leben – wer weiß das schon?

Einer von ihnen war am vorigen Donnerstag, 17. Januar, vor dem Amtsgericht Tiergarten angeklagt: Der 22-jährige Rumäne soll versucht haben, einem polnischen Pärchen, das am Hauptbahnhof ebenfalls zeitweilig Zeitungen verkaufte, Handy, Geld und Zigaretten zu stehlen. Zudem soll er den Mann geschlagen haben. Später am selben Tag – das Ganze soll im Mai 2018 gewesen sein – sollen er und drei andere Rumänen die beiden Polen bis zur Invalidenstraße verfolgt und dort verprügelt haben. Die Frau, die schwanger gewesen sein soll, habe infolgedessen ihr Kind verloren.

Die Herkunft der Beteiligten ist wichtig in diesem Fall. Denn die wachsende Konkurrenz der Verkäufer hat dazu geführt, dass diese ihre „Gebiete“ am Bahnhof nach Nationen aufgeteilt haben. Die Rumänen verkaufen respektive betteln am nördlichen Europaplatz, die Polen und Deutschen am Washingtonplatz, wie der Beschuldigte und die beiden Zeugen übereinstimmend dem Gericht erklären.

Auf Befragung der Vorsitzenden Richterin, zwei Schöffen sitzen ihr zur Seite, gibt der Beschuldigte zunächst zu Protokoll, „nicht so gut“ lesen und ­schreiben zu können. Er habe keine Schule besucht, keinen Beruf gelernt und keinen festen Wohnsitz. In Deutschland sei er immer für „zwei bis drei Monate, dann wieder weg, wieder hier“, übersetzt die Dolmetscherin für das Gericht. Seine Familie – Mutter, Brüder, Schwestern – seien in Rumänien. Er lebe „von den Zeitungen“, sagt er und schlafe „am Bahnhof“.

Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestreitet er. Der Pole habe ihn zuerst geschlagen, er habe sich nur gewehrt: „Er hatte schon was getrunken und sagte zu mir: Was guckst du so nach meiner Frau?“ Dass er später mit anderen die beiden erneut überfallen habe, sei auch nicht wahr, „ich schlage keine Frauen“, gibt er an.

Es gebe „zu viele von denen“

Dann tritt der junge Pole, sichtlich eingeschüchtert oder verwirrt von der Gerichtsatmosphäre, in den Zeugenstand. Bei der Frage nach seinem Alter muss der 22-Jährige erst nachrechnen. Einen Beruf habe er nicht, übersetzt ein Dolmetscher auch für ihn. Eine Zeit lang habe er am Hauptbahnhof Zeitungen verkauft, dann nicht mehr, „weil von denen viel zu viele da sind“, sagt er und zeigt auf den Beschuldigten. Zur Zeit des Vorfalls habe er Pfandflaschen gesammelt.

„Sind Sie öfter in Schlägereien verwickelt?“ – „Ja, das kommt vor“

Im Verlauf seiner Aussage spricht er immer wieder aufgeregt von „den Rumänen“, die am Bahnhof Leute beklauen würden „nachts, und alles“. Seine Schilderung, wie er an jenem Tag zunächst vom Beschuldigten, dann von vier Rumänen geschlagen worden sei und versucht habe, seine Frau zu schützen, kulminiert darin, dass er sich umdreht und ins Publikum zeigt.

Dort sitzt ein junger Mann mit Mütze – der sei einer der Täter gewesen. Abends habe seine Frau wegen eines Tritts in den Bauch begonnen zu bluten, sie sei in die Charité gefahren. Die Arzt-Unterlagen seien später samt Rucksack gestohlen worden, „als wir unter einer Brücke schliefen“. – „Und das Kind?“, fragt die Richterin. „Ich weiß nicht, sie hat geblutet, bekam Tabletten. Ich kenne mich damit nicht aus.“

Der Pflichtverteidiger des Beschuldigten fragt nach, ob er den Rumänen auch geschlagen habe. Ja, er habe sich verteidigt und einmal aufs Auge getroffen. Ob er heute schon Alkohol getrunken habe? Die Verhandlung hat um 13 Uhr begonnen. „Ja, ein Bier, einen halben Liter.“ – „Sind Sie öfter so aufbrausend?“ – „Ich bin etwas nervös, so bin ich, ich habe ADHD (sic!).“ Ob er öfter in Schlägereien verwickelt sei? „Ja, das kommt schon vor.“

Als er den Saal verlässt, bittet die Richterin den Mann aus dem Publikum nach vorne, lässt seinen Namen notieren. Dann liest sie das Vorstrafenregister des Polen vor, das mehrere Einträge wegen Diebstahls und Körperverletzung enthält.

Nach Paris abgetaucht

Auch die polnische Freundin, 33 Jahre alt, leicht aufgedunsenes Gesicht, gibt an, keinen Beruf zu haben. Vor Verhandlungsbeginn hat die deutsche Begleiterin der beiden, bei denen diese mit Wohnsitz gemeldet sind, der taz-Reporterin erzählt, die junge Frau sei nach dem Vorfall wieder – wie schon vor der Schwangerschaft – dem Alkohol verfallen und nach Paris abgetaucht, wo sie im Obdachlosenmilieu versumpft sei. Erst am Vortag des Prozesses sei sie – im Zug, aber ohne Fahrkarte – nach Berlin zurückgekehrt.

Die Schilderung der Polin zu den Ereignissen jenes Tages klingt eigentlich plausibel, weicht allerdings in einigen Details von der Aussage ihres Freundes ab, wie die Richterin durch intensives Nachfragen herausarbeitet. Von wem der Beschuldigte denn nun Geld und Handy verlangt habe, will sie etwa wissen. „Von mir“, sagt die Zeugin – ihr Freund hat dagegen behauptet, von ihm. Auch auf die Frage, ob sie an jenem Tag schon Alkohol getrunken habe, sagt die Zeugin, anders als zuvor ihr Mann, nein, habe sie nicht.

An manchen Punkten scheinen sich Richterin und Zeugin schlicht nicht zu verstehen. So fragt die Richterin, warum die Zeugin ein Foto von ihrem Schwangerenbauch gemacht habe – das sie zum Beweis fürs Gericht mitgebracht hat. „Einfach so“, erklärt die Zeugin.

Dass manche Schwangere tatsächlich ihren Bauch aus reiner Freude fotografieren, leuchtet der Richterin aber nicht ein. Sie fragt erneut nach dem Warum. „Um zu beweisen, dass ich schwanger bin“, sagt die Zeugin dann. Was die Richterin für unglaubwürdig hält: Niemand fotografiere seinen Bauch, wenn er noch nicht weiß, dass er einen Tritt hineinbekommen wird.

Am Ende bleibt einiges unklar. Etwa wann, wo und wie die Frau ihr ungeborenes Kind verloren hat. Mit ihrer eigenen Aussage bei der Anzeigenaufnahme vor acht Monaten konfrontiert – sie sei damals im sechsten Monat schwanger gewesen – und da blute man ja nicht nur ein paar Tage, sondern habe eine richtige Fehlgeburt, sagt sie nun, sie wisse all dies nicht mehr genau.

Wo sind die Krankenunterlagen?

Offen bleibt auch, warum das Gericht und die Staatsanwaltschaft nicht die Krankenunterlagen der Charité angefordert haben, die der Zeugin nach eigener Aussage gestohlen wurden, die es aber, wenn ihre Geschichte stimmt, geben muss.

Die Richterin unterbricht die Verhandlung. In der Pause spricht ein dritter Rumäne, der im Publikum sitzt, die Reporterin an. Es sei ja wohl klar, sagt er, dass „die Deutsche“ – die Begleitung der beiden Polen – die ganze Geschichte nur erfunden habe, um den Rumänen zu schaden. Warum? „Wegen der Konkurrenz beim Zeitungsverkauf.“ Als die Verhandlung weitergeht, schaut sich das Gericht zum Abschluss der Beweisaufnahme noch Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras an, kann darauf aber nichts Eindeutiges erkennen, wie die Richterin feststellt.

Zum Schluss lässt die Anklage die Tatvorwürfe gegen den Rumänen mangels Beweisen fallen. „Die Zeugenaussagen sind so mangelhaft, dass man die Anklage nicht aufrechterhalten kann“, erklärt die Staatsanwaltschaft. „Leider sind das nicht die Bilderbuchzeugen, die man sich wünschen würde“, setzt sie hinzu. Der Beschuldigte wird freigesprochen.

Auf Nachfrage der taz erklärt das Gericht, gegen zwei weitere Mittäter in der Sache sei gesondert ermittelt, aber bislang offenbar keine Anklage erhoben worden. Auf die Frage, warum das so ist, hat die zuständige Staatsanwaltschaft bislang keine Antwort gegeben.

Zwei Stunden nach Prozessende bekommt die taz einen Anruf von der deutschen Freundin der Polen. Die Rumänen seien wieder am Hauptbahnhof – der Beschuldigte und der Mann aus dem Publikum, der mit geprügelt haben soll. Sie hätten gelacht und gespottet, weil niemand den Angriff bezeugen konnte. Und sie hätten sie, die Deutsche, die vermeintliche Anstifterin der Anzeige, bedroht: „Du kriegst bald richtig Ärger“, sollen sie gesagt haben.

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