Gleichstellung in Filmbranche: „Etwas Grundlegendes verändern“

Die Studie „Vielfalt im Film“ will herausfinden, wer in Deutschland vor und hinter der Kamera arbeitet – und Auswirkungen der Coronakrise darauf.

Szene aus der Netflix-Serie "Special": Drei junge Leute lachen

Ryan O’Connell (l.) spielt in „Special“ eine queere behinderte Figur – jenseits einer „Problemstory“ Foto: Netflix

taz: Skadi Loist, Joshua Kwesi Aikins, Sie haben eine Umfrage über Gleichstellung in der Filmbranche mit initiiert, die am Freitag startet. Sie wollen die Erfahrungen von 30.000 Menschen im deutschsprachigen Raum erheben und auswerten. Warum?

Joshua Kwesi Aikins: Film- und Fernsehproduktionen im deutschsprachigen Raum spiegeln die Gesellschaft leider nicht wider. Sie müssten das aber tun, da sie wichtige Medien sind, über die eine Selbsterzählung der Gesellschaft entsteht: Wer sind wir, wer gehört da dazu? Deshalb müssen sich in der Filmproduktion alle wiederfinden können, in ihrer Vielfältigkeit.

Skadi Loist: In dieser Studie geht es jedoch weniger darum, was auf dem Bildschirm zu sehen ist, also die Repräsentationsmuster in Filmen. Wir erheben stattdessen die Vielfalt hinter der Kamera: Wer arbeitet da, wer ist wie vertreten in den verschiedenen Gewerken. Die Erzählung, die entsteht, hängt nämlich auch davon ab. Das heißt natürlich nicht, dass Frauen nur Frauengeschichten erzählen sollen oder Schwule Schwulengeschichten. Was wir uns wünschen, ist keine Eins-zu-eins-Übersetzung, sondern dass Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft in den verschiedenen Berufsgruppen beim Film eine Chance haben. Und dass auf diese Weise die erzählten Geschichten anders und komplexer werden, weil bestimmte Erfahrungshorizonte mitschwingen.

Skadi Loist, Sie forschen auch zu Arbeitsbedingungen vor und hinter der Kamera. Wo sehen Sie in Sachen Gleichstellung den dringendsten Handlungsbedarf?

ist Politikwissenschaftler und arbeitet für den zivilgesellschaftlichen Verband Citizens for Europe.

ist promovierte Filmwissenschaftler*in und Professor*in an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, und ist zudem im Netzwerk Queer Media Society aktiv.

Loist: Das offensichtlichste Problem für das Erreichen von Diversität in der Branche ist die Überrepräsentation von weißen Männern auf allen Ebenen, aber darin erschöpft es sich nicht. Es gibt etliche weniger augenfällige Muster von Diskriminierung. Deshalb ist diese Studie so wichtig. Sie wird die erste intersektionale Erhebung in dieser Branche sein, also die erste Studie, die viele Kategorien zusammen erhebt. Nicht nur Gender, sondern: Race, Ethnie, Sexualität, sozialer Status, Ost-West-Position, Behinderung, trans Identität – es wird alles gleichzeitig abgefragt.

Was genau werden die Teilnehmenden in der Onlineerhebung gefragt?

Aikins: Es gibt mehrere Teile. Zunächst sollen die anonym Teilnehmenden angeben, in welchem Gewerk sie arbeiten. Dann gibt es ein demografisches Profil, wo die Teilnehmenden zur Selbstbezeichnung eingeladen sind. Es ist nämlich dringend notwendig zu differenzieren zwischen der äußeren Zuschreibung von Kategorien, die meist Diskriminierung zugrunde liegt, und der eigenen Selbstdefinition. Danach gibt es die Möglichkeit, Angaben zu Diskriminierungserfahrungen zu machen. Etwa Erlebnisse am Filmset, aber nicht nur, wir fragen auch nach dem Privatbereich. Denn wir gehen davon aus, dass auch bestimmte Vermeidungsstrategien mit zum Gesamtbild gehören. Etwa bei der sexuellen Orientierung, wo Menschen sich womöglich überlegen, ob sie das überhaupt im Arbeitskontext offenbaren.

Wer an der Erhebung teilnehmen möchte, kann sich ab Freitag kostenlos auf vielfaltimfilm.de registrieren.

Und schließlich betrachten wir die Auswirkungen der Coronakrise auf sämtliche abgefragten Diskriminierungskategorien. Etwa vermuten wir, dass der latente Sexismus in der Branche sich durch die angespannte Situation in der Pandemie verschlimmert haben könnte, das fragen wir also auch ab, ebenso wie das Feld der Belästigung und der sexualisierten Gewalt. Wir werden auch nach möglichen Gegenmaßnahmen fragen, die die Teilnehmenden für effektiv halten. Unsere Daten sind ja nämlich kein Selbstzweck, sondern haben ein Ziel: Alle Akteure zu befähigen, auf umfassende Chancengleichheit hinzuwirken.

Was bedeutet es, intersektional empirisch zu forschen?

Loist: Es gibt bereits einige Studien, die unter dem Stichwort „Diversität“ liefen, wo es dann aber primär um die Genderverteilung geht oder höchstens um eine weitere Kategorie. Es ist aber nötig, mehr Dimensionen und ihre Verschränkung zu sehen. Wir sind mittlerweile in einer Situation, wo die deutsche Branche bei internationalen Kooperationen in Zugzwang gerät. In anderen Ländern ist Vielfalt längst ein Aspekt in der Filmförderung. Zum Beispiel in den 2016 vom British Film Institute eingesetzten Diversity Standards. Diese sind inzwischen eine wichtige Referenz auch im deutschsprachigen Raum.

Wer sich den Diskurs in Großbritannien, Kanada oder den USA anschaut, bemerkt, wie anders dort über Ethnizität oder Race gesprochen wird. In Deutschland gilt das bisher als Nebenaspekt. Erst mit dem Tod von George Floyd scheint den Deutschen wieder eingefallen zu sein, dass es Rassismus gibt. Intersektional forschen ist natürlich erst einmal eine Herausforderung. Wie erhebe ich eine Statistik, in der sich die einzelne Person wiederfindet, die aber auch sinnvoll zu erheben ist. Welche Definitionen verwende ich überhaupt? Existierende statistische Kategorien wie der „Migrationshintergrund“ helfen da kaum weiter, da sie Diskriminierungserfahrung aufgrund von Hautfarbe nicht zwingend abbilden

Aikins: Deswegen haben wir bewusst in der Konzeption der Studie mit Vertreter*innen unterschiedlicher Selbstorganisationen von Menschen mit Diskriminierungserfahrung gearbeitet, also verschiedenste Perspektiven zusammengebracht. Dieses Vorgehen ist ein Grundprinzip unserer Arbeit zur Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten – der konzeptionelle Einbezug der Gemeinschaften, um deren Erfahrungen es geht, ist eines der Kernprinzipien, die wir dazu entwickelt haben. Grundideen, Vorgehen und die Qualitätskriterien stellen wir in der frei verfügbaren Publikation „Wer nicht gezählt wird, zählt nicht“ dar. Das hat uns ermöglicht, genauer die spezifischen Verletzlichkeiten und Dynamiken zu begreifen, die in der Überschneidung von Diskriminierungen entstehen können.

Nehmen wir die Erfahrung, die uns eine Schauspielerin of Color berichtete hat: Sie erhielt zum einen immer wieder sehr spezifische Rollenangebote eines bestimmten Typs, nämlich Prostituierte. Zugleich erlebte sie unmissverständliche sexuelle Avancen, die mit dem Rollenangebot verknüpft waren. Da überlagern sich also verschiedene Verletzlichkeiten: Frau­sein und rassistische Zuschreibung. Nun könnte man etwa noch die Altersdynamik dazunehmen oder soziale Herkunft, und trans Identität. Solche Verschränkungen können wir dann an unserem Datenmaterial abprüfen.

Wie wollen Sie mit der Ergebnisfülle umgehen?

Aikins: Es gibt einen quantitativen Teil mit Multiple-Choice-Fragen, der sich statistisch auswerten lässt, sowie auch Felder, in die freier Text eingetragen werden kann. Diesen kodieren wir nach bestimmten thematischen Mustern. Das lässt sich dann wiederum an die quantitativen Daten zurückbinden und ergibt dann ein Gesamtbild aus gemischten Methoden. Der intersektionale Ansatz erlaubt dabei, Menschen facettenreicher zu betrachten anstatt festgelegt auf einen Aspekt ihres Seins.

Loist: Ziel ist, wie gesagt, nicht, einfach einen Status quo abzubilden, sondern auch Anregungen für mögliche Maßnahmen zu entwickeln – in der Hoffnung, dass die Branche endlich anfängt, darüber nachzudenken, etwas Grundlegendes zu verändern. Wenn wir diversere Geschichten vor der Kamera wollen und weniger Problemfilme mit stereotypen Rollen, dann brauchen wir Menschen hinter der Kamera, die ihre diversen Erfahrungen einbringen und nuanciertere Geschichten miterzählen können.

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