Goldener Löwe für „Sacro GRA“: Schön gefilmtes Kuriositätenkabinett

Erstmals hat ein Dokumentarfilm das Festival von Venedig gewonnen. Er handelt von der Ringautobahn um Rom – und überzeugt nicht wirklich.

Gianfranco Rosi mit seiner Crew: Zum ersten Mal gewann ein Dokumentarfilm das Festival Bild: dpa

Der Fischer sitzt in seiner Kate, liest Zeitung und schimpft über Aale aus „Afrika, Amerika und Frankreich“. Mit den ortsfremden Tieren gelangten fremde Mikroben in die italienischen Gewässer. Und die Journalisten würden nichts als Unfug schreiben.

Seine Frau sitzt neben ihm, sie vertieft sich in ihre Handarbeit, der Fischer will, dass sie ihm zustimmt und seine Empörung teilt. „Du bist ja wie Penelope“, mosert er, als sie schweigt und weiterhäkelt.

Der Fischer ist eine der vielen schrulligen Figuren, die der italienische Regisseur Gianfranco Rosi für seinen Dokumentarfilm „Sacro GRA“ ausfindig gemacht hat. GRA ist die Autobahn, die sich wie ein Ring um Rom legt; ein Ort des Transits, der Peripherie.

Die 70. Filmfestspiele von Venedig gingen am Samstag mit der Preisverleihung zu Ende. Die wichtigsten Auszeichnungen:

Goldener Löwe, bester Film: „Sacro GRA“ von Gianfranco Rosi

Silberner Löwe, beste Regie: Alexandros Avranas für „Miss Violence“

Preis der Jury: „Die Frau des Polizisten“ von Philip Gröning

Bester Schauspieler: Themis Panou („Miss Violence“ von Alexandros Avranas)

Beste Schauspielerin: Elena Cotta („Via Castellana Bandiera“ von Emma Dante)

Bestes Drehbuch: Steve Coogan, Jeff Pope („Philomena“)

Neben dem Fischer treten Prostituierte auf, Rettungssanitäter, Totengräber oder ein Hobbybiologe, der mit einem Tonbandgerät die Geräusche aufzeichnet, die die Larven eines Käfers in Palmen produzieren. In einer Szene spielt er die Aufnahmen auf seinem Computer vor, sie klingen lustig, wie eine Mischung aus Knall und Klospülung.

Schwaches Leuchten

Für „Sacro GRA“ erhielt Gianfranco Rosi am Samstagabend den Goldenen Löwen der 70. Mostra internazionale d’arte cinematografica in Venedig. Es war eine überraschende Entscheidung der Jury, deren Vorsitz in diesem Jahr Bernardo Bertolucci innehatte. Zum ersten Mal seit 1998 hat am Lido von Venedig ein italienischer Film gewonnen, zum ersten Mal überhaupt ein Dokumentarfilm.

Überraschend war das Votum auch, weil „Sacro GRA“ zu viel von einem schön gefilmten Kuriositätenkabinett hat, als dass er rückhaltlos überzeugt hätte. Aus den 20 Wettbewerbsfilmen stach er weit weniger heraus als etwa Xavier Dolans energiegeladener Spielfilm „Tom à la ferme“ („Tom auf dem Bauernhof“), der am Samstag ohne Auszeichnung blieb, oder Tsai Ming-liangs „Jiaoyou“ („Stray Dogs“), der anstelle des Goldene Löwen immerhin den Großen Preis der Jury erhielt.

Auch manch andere Entscheidung der Jury hatte etwas Erratisches. Der Preis für die beste Regie etwa ging an den Griechen Alexandros Avranas, obwohl er mit „Miss Violence“ einen Film zum Wettbewerb beisteuerte, der Zynismus als Kunst tarnte. „Miss Violence“ schaut einer dysfunktionalen Familie im Athen der Gegenwart zu. Solange der Ursprung der Dysfunktion im Dunkel bleibt, lässt sich der Film als zurückhaltende, beinahe subtile Studie einer krisenhaften Situation begreifen.

Missbrauch als Methode

Doch bald wird deutlich, worin die Not der Figuren besteht. Der scheinbar so zugewandte, ältere Herr in ihrem Mittelpunkt, Vater und Großvater der jungen Frauen und Mädchen, prostituiert seine Töchter und Enkelinnen. Avranas stellt die Unerträglichkeit der Verhältnisse aus, der Missbrauch wird in „Miss Violence“ zum Spektakel, der Regisseur protzt mit seiner Unerschrockenheit.

Es gibt aufrichtigere Wege, sich mit menschlichen Abgründen zu befassen, etwa den, den der deutsche Regisseur Philip Gröning in seinem Spielfilm „Die Frau des Polizisten“ beschreitet, der Geschichte einer Frau, die von ihrem Mann körperlich misshandelt wird. „Die Frau des Polizisten“ erhielt den Spezialpreis der Jury.

Seit 2012 ist Alberto Barbera als Direktor der Mostra im Amt; er hat das Programm verschlankt, und stärker als sein Vorgänger Marco Müller setzt er auf eine einheitliche Prägung. Gab es bis 2011 am Lido tolle Mischungen aus US-amerikanischen Erzählkino, spröder Filmkunst, ostasiatischen Spektakeln und Bewegtbildern, wie man sie sonst meist in den Black Boxes der Museen findet, gilt heute über weite Strecken das Gebot des guten Arthouse-Geschmacks.

Pixelige Gegenwart

Schade ist es um die Retrospektiven, die mit Spaghettiwestern oder Yakuza-Filmen die B-Seite des Kinos feierten. An ihre Stelle sind die Venice Classics getreten, die nach dem Vorbild der Cannes Classics präsentieren, was von Kinematheken gerade aufwändig restauriert wurde.

Natürlich macht man dabei tolle Wieder- und Neuentdeckungen, zugleich aber wird man den Eindruck nicht los, das Festival werde zur Marketingplattform für anstehende DVD- beziehungsweise Blueray-Veröffentlichungen. Und manchmal stimmt einen die Digitalisierung des Filmerbes auch traurig, etwa wenn Chantal Akermans Experimentalfilm „Hotel Monterey“ gezeigt wird.

1972 auf 16 Millimeter gedreht, hat das Original im Lauf der Jahre Schaden genommen; von der Cinémathèque Royale de Belgique wurde es nun digital restauriert. „Hotel Monterey“ besteht aus langen, unkommentierten Einstellungen aus dem Inneren des gleichnamigen New Yorker Hotels. Manchmal sieht man nichts als einen engen Flur, Türen, den Fahrstuhl. Mit anderen Worten: Man sieht vor allem Flächen, oft sind sie nicht gut ausgeleuchtet, der Reiz besteht darin, wie das Filmkorn vibriert.

Bei 16 mm und analoger Projektion kommt dieses Vibrieren gut zur Geltung, es verleiht dem Bild etwas Pochendes, Lebendiges. In der Sala Volpi aber bleibt davon nicht viel. Es ist schwer zu sagen, ob es an der Qualität der Projektion oder an der der Restaurierung liegt, doch wo Puls war, sind nun Pixel.

Monothematisches Kino

Hinzu kommt, dass sich eine Tendenz verstetigt, die sich im letzten Jahr andeutete: Barbera und sein Auswahlgremium setzen auf thematische Leitmotive. 2012 gab es viele Filme, die sich mit Religion befassten. In diesem Jahr war es die Familie in der Krise, an der sich die Wettbewerbsbeiträge abarbeiteten, von David Gordon Greens „Joe“ über Philip Grönings „Die Frau des Polizisten“ bis hin zu Tsai Ming-liangs „Jiaoyou“ („Stray Dogs“).

Wiederkehrende Motive haben ihren Reiz, da sich im Vergleich gut beobachten lässt, wie unterschiedlich ästhetische Zugänge ausfallen können. Sobald sie überstrapaziert werden, ermüden sie, weil dem Thema größere Relevanz zukommt als dem Medium Kino. Das heißt nicht, dass sich die Mostra ins Abseits bewegte. Attraktiv ist und bleibt sie allein schon ihrer begnadeten Lage wegen.

Spätsommertage am Lido von Venedig zu verbringen ist unschlagbar. Die Modernisierung der veralteten Infrastruktur kommt tatsächlich gut voran; so gab es in diesem Jahr zum Beispiel ein fast flächendeckendes WLAN, etwas, was man bei den Festivals von Cannes oder Berlin vergeblich sucht.

Und an Filmen, die einen beschäftigen und umtreiben, herrschte ohnehin kein Mangel – man denke nur an Wang Bings fulminante, vierstündige Dokumentation „Feng Ai“ („’Til Madness Do Us Part“), die eine psychiatrische Anstalt im Südwesten Chinas erkundet, oder an Frederick Wisemans großartiges Institutionenporträt „At Berkeley“, das die kalifornische Universität Berkeley vorstellt und dabei das ungelöste Dilemma ausmisst, wie man unter spätkapitalistischen Bedingungen Zugang zu exzellenter Bildung anbietet, ohne sich dabei nur an diejenigen zu wenden, die ohnehin durch den Wohlstand ihrer Eltern begünstigt sind.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.