Goldener Löwe in Venedig: Wenn leise Töne siegen
Die 82. Filmfestspiele von Venedig gehen mit dem Goldenen Löwen für Jim Jarmusch zu Ende. Bei der Preisverleihung gab es viele Stimmen für Gaza.
Oh, shit.“ Der Regisseur Jim Jarmusch weiß auch mit 72 Jahren noch, wie man einen lässigen Auftritt absolviert. Als er bei der Preisverleihung der 82. Filmfestspiele von Venedig ans Mikrofon trat, um sich für den Goldenen Löwen zu bedanken, den er für seinen Film „Father Mother Sister Brother“ erhalten hatte, waren das seine ersten Worte.
Ein bisschen kalkulierte Coolness mag dabei im Spiel gewesen, doch passte sein wenig geschönter Ausdruck der Überraschung gut zur allgemeinen Stimmung, die diesen Preis begleitete.
Dass jemand im Vorfeld mit dem Goldenen Löwen für Jarmuschs elegant lakonisches Spätwerk groß gerechnet hätte, lässt sich jedenfalls nicht behaupten. „Father Mother Sister Brother“, ein Episodenfilm, der wechselnde Familienkonstellationen zeigt, in denen die Beteiligten oft sehr witzig aneinander vorbeireden, hat etwas von einer Summa, in der Jarmusch einige seiner Lieblingsmittel zusammenfasst.
Neben der episodischen Form arbeitet er auch diesmal viel mit Wiederholungen. Einzelne Sätze tauchen regelmäßig in leichten Variationen auf, immer wieder gibt es Szenen, in denen Skateboarder durchs Bild fahren oder jemand mit einem Hund an der Leine vorübergeht.
Würdigung der Lebensleistung
Mit diesem Preis scheint zugleich die Lebensleistung Jarmuschs gewürdigt worden zu sein, ähnlich dem Goldenen Löwen für Pedro Almodóvars „The Room Next Door“ im vergangenen Jahr. In beiden Fällen lässt sich zudem sagen, dass es nicht die stärksten Filme der Regisseure sind. Eine falsche Entscheidung ist dies zwar nicht, doch bleibt ein Bedauern, dass andere Mitbewerber für ihre Ideen zum Teil gar nicht oder kaum gewürdigt wurden.
So gab es kurz vor Abschluss des Wettbewerbs mit Ildikó Enyedis „Silent Friend“ einen Höhepunkt, der ähnlich still erzählt war wie Jarmuschs Film, dafür jedoch ganz andere Wege ging. Die ungarische Regisseurin, die 2017 mit ihrem ungewöhnlichen Liebesfilm „Körper und Seele“ den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen hatte, stellt einen Baum ins Zentrum ihrer Geschichte.
Dieser riesige Ginkgobaum im Botanischen Garten von Marburg begleitet eine Studentin zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Luna Wedler), die sich als eine der ersten an der Universität zugelassenen Frauen selbstbewusst gegen den Sexismus der Professoren behauptet, des Weiteren eine Studentin in den studentenbewegten Siebzigern, die die Sprache von Pflanzen erkunden will, und einen Neurowissenschaftler aus Hongkong (Tony Leung), der während der Coronapandemie ein Interesse für das neuronale Netzwerk des Ginkgobaums entwickelt.
Empfohlener externer Inhalt
Enyedi schildert mit leiser Ironie, wie die Beteiligten mehr Erfolg darin haben, die Kommunikation von Pflanzen zu erkunden, als sich mit ihresgleichen zu verständigen. Sie wählt für die verschiedenen Zeitebenen unterschiedliche Optiken, Schwarz-Weiß, grobkörnigen Farbfilm und klar-kühle Digitalaufnahmen.
Üppige Pflanzenporträts gehören ebenso zu ihrer Ausstattung wie psychedelische Farbstreifen, mit denen sie neuronale Ströme abbildet. In diesem stetigen Fließen durch die Geschichte verliert man das Gefühl für Zeit. Am Ende stellt man verwundert fest, dass man zweieinhalb Stunden mit den Ereignissen rund um einen Baum verbracht hat.
Luna Wedler gewann für ihren Part verdient den Marcello-Mastroianni-Preis, der an Schauspielnachwuchs verliehen wird. Ildikó Enyedi hätte man aber noch mehr der Ehre gewünscht.
Zwei italienische Produktionen ausgezeichnet
Das italienische Kino, traditionell stark präsent im Wettbewerb von Venedig, machte dieses Jahr bei allen fünf eingeladenen Filmen eine gute Figur. Am Ende gab es lediglich zwei Auszeichnungen für italienische Produktionen: den Schauspielpreis Coppa Volpi für Toni Servillo, der in Paolo Sorrentinos „La Grazia“ elastisch würdevoll einen fiktiven Staatspräsidenten Italiens gibt, und den Spezialpreis der Jury für Gianfranco Rosis poetischen Dokumentarfilm „Sotto le nuvole“, der Menschen rund um Neapel im Schatten der Vulkane in Schwarz-Weiß porträtiert.
Auch vom US-amerikanischen Kino, das mit Großproduktionen wie Guillermo del Toros „Frankenstein“, Kathryn Bigelows vorwiegend an Bildschirmen inszeniertem Politthriller „A House of Dynamite“ und Noah Baumbachs Starvehikel „Jay Kelly“ recht prominent im Wettbewerb angetreten war, ging der Großteil leer aus.
Lediglich Benny Safdie konnte sich über den Preis für die beste Regie für „The Smashing Machine“ freuen. Ihm gelang das Kunststück, sein Sportlerdrama um den Mixed-Martial-Arts-Pionier Mark Kerr mit Dwayne Johnson in der Hauptrolle zu einer Geschichte über Sieg und Scheitern zu machen, in der der Protagonist in all seiner Widersprüchlichkeit zwischen Güte und Milde einerseits und Größen- und Kontrollwahn andererseits gezeichnet wird.
Safdie nutzte seine Dankrede, um über Empathie zu sprechen, die er ebenso als Anliegen seines Films verstanden wissen wollte wie als eines der wichtigen Themen dieser Tage.
Großer Preis der Jury für Kaouther Ben Hania
Während der Abschlussgala hatten zuvor zahlreiche Preisträger in ihren Reden den Krieg in Gaza angesprochen. Am deutlichsten und ausführlichsten tat dies schließlich die tunesische Regisseurin Kaouther Ben Hania, die für ihren Spielfilm „The Voice of Hind Rajab“, in dem sie Telefonaufnahmen mit der echten Stimme des Anfang 2024 in Gaza-Stadt getöteten Mädchens Hind Rajab verwendet, den Großen Preis der Jury bekam.
Im Vorfeld hatte es Erwartungen gegeben, sie könnte sogar mit dem Hauptpreis ausgezeichnet werden. Man kann gleichwohl Zweifel anmelden, ob es ein legitimes Mittel ist, die Stimme einer Getöteten in einen Spielfilm zu montieren, in dem Schauspieler die Gesprächspartner des Telefonats verkörpern.
Ben Hania widmete ihren Film dem Palästinensischen Roten Halbmond und bezeichnete die Stimme Hind Rajabs als „Stimme Gazas“. Sie forderte, dass „diese unerträgliche Lage beendet“ werden solle, äußerte die Hoffnung, dass ihr Film hilft, „den Krieg zu beenden“, und schloss mit dem Ruf „Free Palestine“.
„Enough“ lautete der Schriftzug auf dem Sticker, den Ben Hania dabei an ihrem Kleid trug. Einen solchen Sticker trug ebenfalls Jarmusch am Revers seines purpurfarbenen Anzugs. Im Unterschied zu Ben Hania zeigte er sich in seiner Rede allerdings nicht aktivistisch.
„Kunst muss nicht von Politik handeln, um politisch zu sein“, erinnerte Jarmusch und griff das Plädoyer seines Kollegen Safdie für Empathie auf. Diese könne eine Verbundenheit zwischen Menschen schaffen, worin er einen ersten Schritt für die Lösung von Problemen sah.
Einstehen für die Filmkunst
Dass Jarmusch als Autorenfilmer mit prägnantem ästhetischen Ansatz siegreich aus diesem Rennen hervorgegangen ist, kann man daher als Einstehen der Jury unter ihrem Präsidenten Alexander Payne für die Filmkunst verstehen.
Vorübergehend hätte man den Eindruck haben können, dass politische Erwägungen bei den Filmfestspielen dominieren könnten. Dass dies nur zum Teil der Fall gewesen zu sein scheint, ist ein gutes Signal für die Filmkunst. Denn um die sollte es bei so einer Veranstaltung in erster Linie gehen.
Bekenntniszwang besteht für sie nicht. Und dass Filme die Welt verändern, geschieht eher indirekt und allenfalls in Ausnahmen.
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