Grafisch erzählt: Bibo in den traurigen Tropen

Mit „In China“ entführt der Hamburger Comic-Künstler Sascha Hommer seine LeserInnen auf eine faszinierend gefühlstaube Reise nach Chengdu

Nur auf dem Cover von „In China“ erlaubt sich Sascha Hommer Farben Foto: Sascha Hommer (Reprodukt)

Zum Schluss wird es fast ein wenig pathetisch. In den letzten Panels nämlich lässt Sascha Hommer den, bei aller radikaler Reduktion doch noch gut erkennbaren, Big Bird, diese überlebensgroße gelbe Figur aus der Sesamstraße, eine Abschiedsrede halten. In den USA war der Riesenvogel immer die populärste Figur der TV-Serie neben Kermit. In Deutschland trug er den Namen Bibo, und der NDR hatte ihn Anfang der 1980er-Jahre weitgehend eliminiert.

In Hommers Comic-Erzählung „In China“ aber, die in einer Ausstellung im Hamburger Hinterconti vorgestellt wird, bekommt Bibo einen großen Auftritt. In dem Album tritt er als Sprachdozent auf und als Landeskundelehrer, der sich als Jon vorstellt und „seit 1983 in China“ lebt: Tatsächlich hatten damals, mitten in der Reagan-Ära, China Central TV und NBC einen Film fürs US-Fernsehen produziert, in dem Big Bird begleitet von seinem treudoofen Hund Barkley ein überaus tourismustaugliches China präsentiert: lange Mauern, Paläste, Fahrräder und Folklore.

Auf diese Perle des Kinderfernsehens greift nun der Hamburger Comic-Künstler zurück, löscht Bibos Farbe und lässt ihn, während er in den letzten Panels des Schwarz-Weiß-Buchs mit dem Zeigestock auf Schautafeln der Verbotenen Stadt weist, Grundsätzliches verkünden: „Ich wünsche mir“, steht in der Sprechblase, die aus dem Schnabel strömt, und am Ende werden ihm seine ZuhörerInnen dafür enthusiastisch Beifall klatschen, „zur Zeit der wahren Reisen gelebt zu haben ...“ – ach ja. Natürlich. Es ist Claude Lévi-Strauss der da aus der TV-Kinderprogramm-Serienfigur spricht, eine Kernpassage aus „Traurige Tropen“, dem an der Ethnologie verzweifelnden Ethnologie-Klassiker.

Das Fremde wahrnehmen

Das kann man durchaus mal oberflächlich als einen Witz verstehen. Zugleich aber gelingt es Hommer durch diese Verfremdung, dem vielleicht ein wenig abgegriffenen kulturfrustrierten Zitat aus den 1950er-Jahren neue Frische, der Diagnose eine neue Dringlichkeit zu verleihen: Die Skepsis, dem Fremden begegnen, das Andere wahrnehmen zu können, die der Comic aufzeichnet, ist nicht geringer, als die des französischen Jahrhundert-Intellektuellen. Sie lässt sich nur schlechter gedanklich beherrschen.

Sie ergibt sich im Zusammenspiel von Begriffen und – Hommer liebt und nutzt exzessiv die guten alten Rasterfolien – stets grau verschleierten Bildern als ein beklemmendes Gefühl, oder vielmehr als eine Art Gefühlstaubheit, wie sie mitunter von Opiumkonsumenten beschrieben wird: „In China“ lässt sich lesen als eine Art melancholischer Anti-Laurence Sterne, als ein „Insensitive Journey“, der seine Bildsprache aus einerseits einer traumlosen, harten und mitunter ekelhaften Alltagswirklichkeit, in der Kakerlaken und der Umgang mit ihnen sich als wichtig erweisen, andererseits aus dem Exotismus-Diskurs und seinen Metaphern bezieht.

Da ist zum Beispiel die Sache mit den Masken. Masken gehören schon lange zu den topoi der kritischen Reflexion des romantischen Sehnens nach Fremden, spätestens seit Friedrich Nietzsche das als ein „Nachmachen-wollen, Nachleben-wollen, die Verkleidung, die Verstellung der Seele“ beschrieben hat.

Der Protagonist von Hommers Grafic Novel reist für einige Monate nach Chengdu. Das ist die Hauptstadt der Provinz Sichuan. Die Hauptfigur, die wie der Autor Sascha heißt und aus Hamburg kommt, tritt ständig mit einer Katzenmaske auf. Nach Chengdu fliegt er, um dort seinen Freund Karl zu besuchen. Karl trägt einen schwarzen Kreis mit vier Strichen statt Kopf und hat immer den Hut auf. Mit seiner Freundin Linda, ein Kamel, gibt er das Expat-Stadtmagazin Citylife heraus. So bewegt sich Sascha vor allem unter Westlern: Sie alle haben Tier- oder auch Monsterköpfe übergestülpt, die ihren Blick auf China verstellen und die sie von den Einheimischen abgrenzen.

Sie verhüllen ihre Gesichter nicht. Doch bleiben sie schablonenhaft, sie erfüllen Klischees wie virtuoses Tischtennisspielen und bleiben frei von ausgeprägten Zügen: nur Augenknöpfe, gelegentlich ergänzt um eine schwarze Punktnase und einen Mundstrich in weich umrandeten, breiten Gesichtern. Kindchenschemen, unbestimmte Manga-Zitate.

Sascha sucht sich eine Wohnung, nimmt Sprachunterricht und begeistert sich für die Sichuan-Oper, vor allem wegen ihrer Masken, und der Bianlian-Technik, also ihrem unbemerkten, blitzschnellen Wechsel auf offener Bühne: Gleich kauft er sich eine neue, traditionelle Gesichtsbedeckung, die er für den Rest des Bandes tragen wird.

Und dann jobbt er natürlich: Er soll extrem fehlerhaft ins Deutsche übersetzte Promo-Texte für Video-Präsentationen von Firmen einsprechen. Als er fragt, ob er die sprachlichen Schnitzer korrigieren soll, antwortet ihm das Mangamädchen am Studiotresen: „Nein, also bitte genau das vorlesen, was hier steht.“ Schließlich seien die Vorlagen „von zertifizierten Übersetzern erstellt“. Regungslos sitzt also Sascha mit der Sichuan-Maske in der schalldichten Kabine, Panel für Panel, und liest, stoisch, den zu vollendetem Nonsense geronnenen Werbequorgel ins Mikro: „Shangsheng Sports betritt die Bühne mit dem Traum und ruft mit Zuversicht an die Welt. Die Sportindustrie wird wegen Shangsheng Sports viel wunderschöner!“ Das Manga-Mädchen ist begeistert.

Spröde Verweigerung

Diese gerade dank ihrer spröden Verweigerung von Spannung reizvolle Geschichte lädt Hommer mit Lektüren auf: Jedes der fünf Kapitel hat ein schwarzes Deckblatt, auf dem als Miniatur reproduziert Cover von je einem Paar nicht ausnahmslos kanonischer Blicke auf China und die kulturelle Praxis des Reisens als thematische Setzung fungieren.

Natürlich sind Erzklassiker wie Marco Polos Reisebericht und Sunzis Kunst des Krieges dabei, aber ebenso selbstverständlich fehlt auch die VHS-Kassette von „Bigbird in China“ nicht, Lao Shes grandiose die Opiumkriege verarbeitende Distopie „Die Stadt der Katzen“ und der Tim-und-Struppi-Band “Der blaue Lotos“: Die Bildwelten dieser Lektüren überlagern von den Rändern der Erzählung aus den Blick, sie entern sie und führen sie in eine nie beglückende, aber faszinierende Welt des Fremden, die vielleicht Traum heißen kann, oder vielleicht auch China.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.