Graphic Novel: Schwere Kost aus Altona

Die Wahlhamburgerin Marie Pohl blättert in ihrer neuen Arbeit „Eremit“ eine Gesellschaft auf, in der alles auf einen möglichst, nun, guten Tod zuläuft – und das denkbar drastisch

Martialische Szenen: Seite aus "Eremit", dem neuen Band von Marie Pohl alias Marijpol Bild: Avant-Verlag

HAMBURG taz | Der Kopf des alten Mannes sagt, er habe Bauchschmerzen. Doch kann es sich dabei nur um Phantomschmerzen handeln. Denn zuvor hat der sogenannte Fleischmagnet, ein wurmähnliches Riesenvieh mit Walrosskopf, ihm und seiner Gattin all ihr Fleisch entrissen – nur der Kopf ist ihm geblieben. Warum er noch lebt und sprechen kann? Schwer zu sagen. Gewiss ist nur, dass seine Frau und er sterben wollen.

Doch soll es ein schöner Tod sein, kein 08/15. Kurz bevor ihre Köpfe eine Klippe hinunter geworfen werden, tritt der Entschlussprüfer auf. Der Eremit, ein griesgrämiger, im Urwald lebender Einsiedler, der einem Alien-Thriller entsprungen zu sein scheint. Sein Kopf ist zweigeteilt, ein Gürtel hält die Hälften zusammen. Er stellt sich vor die beiden alten Köpfe und fragt, ob sie bereit sind zu sterben – „Wir möchten sterben, es gibt keinen Zweifel“.

Zweifel! Dieses Wort! Der gespaltene Kopf des Eremiten sprengt den Gürtel, die beiden Hälften baumeln wie blutige Steaks. Es sind zwei Persönlichkeiten, die miteinander sprechen. Man ist ein wenig an die Figur Gollum erinnert, aus dem „Herrn der Ringe“. „Sie könnten noch so viele schöne Dinge gemeinsam erleben!“ sagt die eine Kopfhälfte des Eremiten. „Zusammen am Leben zu sein viel wertvoller, als zusammen zu sterben!“

Es sind solche martialischen Szenen, die die jetzt erschienene Graphic Novel „Eremit“ von Marie Pohl alias Marijpol prägen. Die gebürtige Berlinerin lebt und arbeitet in Hamburg und hat mit ihrem Debüt „Trommelfels“ im vergangenen Jahr den Independent Comic-Preis für das „beste Szenario“ gewonnen. Studiert hat die 30-Jährige Kommunikation und Illustration an der Hamburger Hochschule für angewandte Wissenschaften, ein Semester lang war sie an der Bezalel Akademie in Jerusalem.

Etliche ihrer Geschichten wurden schon in deutschen, italienischen, österreichischen und englischen Magazinen abgedruckt. Zwei Jahre hat sie an „Eremit“ gezeichnet und getüftelt, in einer kleinen Kammer einer alten Kaserne in Hamburg-Altona.

Ihr Atelier ist nur wenige Quadratmeter groß. Schwer vorstellbar, wie die Frau mit der großen Brille hier ihre so ungemein weitläufige Fantasie aufs Papier gebannt haben soll. Denn fantasievoll ist die Graphic Novel ohne Zweifel.

„Eremit“ handelt von einer Gesellschaft, in der fast nur alte Menschen leben, denen sich tiefe Falten ins Gesicht gegraben haben. Kinder sind selten, und somit heilig. Raison d’être dieser Gesellschaft scheint es zu sein, wenigstens einen schönen Tod zu haben. Ein Unternehmen bietet für horrende Preise unterschiedliche Möglichkeiten an: In-den-Weltraum-katapultiert-Werden, zwischen Delfinen und Walen ertrinken oder eben, wie beschrieben, der Fleischmagnet. Und der Job des titelgebenden Eremiten ist es, kurz vor dem Tod der jeweiligen Personen zu prüfen, ob sie auch tatsächlich sterben wollen.

Sein Hauptproblem ist, dass er selbst sich nicht entscheiden kann, zwiegespalten und völlig überfordert ist von all den Möglichkeiten, die einem die Welt bietet. Er ist geprägt von einem Ereignis in seiner Jugend: die Frage nach einer Eissorte. Was vielleicht als Allegorie verstanden werden mag: „Der Kapitalismus gaukelt einem eine Freiheit vor“, sagt Pohl, „die man eigentlich gar nicht hat.“

In einer Szene schlitzt ein Kind mit einem Brotmesser einen niedlich gezeichneten Fuchs den Bauch auf, wühlt in dessen Gedärmen. Diese Szene ist widerlich und soll das auch sein: Schließlich will das Kind Aufmerksamkeit, es ist in dieser Gesellschaft voller Greise ein Unikat und wird dementsprechend verhätschelt. Einen Fuchs zu ermorden ist der verzweifelte Versuch, aus dieser engen Welt auszubrechen. „Der arme Fuchs“, sagt Pohl.

Warum muss eine junge Künstlerin ein Comic zeichnen, das derart martialisch und düster ist, ja: sich größtenteils dem Tod widmet? Diese Frage kriege sie oft gestellt, „verstehe sie aber nicht“, sagt Pohl. „Als ich das Buch damals angefangen habe, waren das eben meine Gefühle.“ Sie habe damals, vor zwei Jahren, schlicht das Bedürfnis gehabt, das zu zeichnen. „Es ist ein organischer Prozess, die Geschichte hat mich begleitet.“

Marijpol, „Trommelfels“, Avant Verlag 2011, 112 S., 19,95 Euro; „Eremit“, Avant-Verlag 2013, 216 S., 19,95 Euro. Releaseparty: heute, 19 Uhr, Hamburg, Strips & Stories, Seilerstraße 40
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