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Greenpeace spricht von „Waldnotstand“Der vergessene Wald Südamerikas

Beim Waldschutz denkt alle Welt gleich an den Amazonas. Derweil verschwindet Südamerikas größter Trockenwald in rasantem Tempo: der Gran Chaco.

Abholzung eines Waldgebiets in der Gran-Chaco-Region Foto: Agustin Marcarian/reuters

Aus Resistencia

Sophia Boddenberg

Jorge Luna hat lange darüber nachgedacht, die Bäume auf seinem Grundstück zu fällen und das Holz zu verkaufen. Palo Santo, Quebracho und Algarrobo wachsen hier im Gran Chaco – dem größten Trockenwald Südamerikas, der sich über Argentinien, Paraguay und Bolivien erstreckt. Baumarten, die es woanders kaum gibt.

Der 55-Jährige lebt auf einem 100 Hektar großen Grundstück in Paraje La Armonía in der Provinz Chaco Nordosten Argentiniens. Die Region ist auch bekannt als El Impenetrable – „der Undurchdringliche“ – wegen der dichten, dornigen Sträucher und Bäume, der hohen Temperaturen und des knappen Wassers. Luna hält Kühe und baut sein eigenes Obst und Gemüse an. „Aber es regnet immer weniger, die Temperaturen steigen, und der Boden ist trocken. Deshalb kann ich kaum noch etwas anbauen“, sagt er. Der Holzverkauf würde ihm schnell und einfach Geld bringen, hätte aber langfristige und unumkehrbare Folgen.

So wie Jorge Luna stehen viele Kleinbauern und ‑bäuerinnen in der Provinz Chaco, einer der ärmsten Argentiniens, unter enormem Druck. Aus finanzieller Not, fehlendem Wissen oder unsicheren Eigentumsverhältnissen sehen sie sich gezwungen, ihre Grundstücke – oft noch mit einheimischem Waldbestand – zu verkaufen oder zu verpachten. Die Folge: Die Bäume fallen der Abholzung zum Opfer.

Mit einer Fläche von mehr als 100 Millionen Hektar ist der Gran Chaco größer als Frankreich und Deutschland zusammen – und nach dem Amazonas das zweitgrößte Waldökosystem Südamerikas. Während der Amazonas immer wieder im Fokus der internationalen Öffentlichkeit steht, haben viele Menschen vom Gran Chaco noch nie gehört. Dabei ist er ein wichtiger Kohlenstoffspeicher und eines der artenreichsten Gebiete des Kontinents – mit mehr als 3.400 Pflanzenarten, 500 Vogelarten, 150 Säugetierarten, und mehr als 200 Arten von Reptilien und Amphibien.

Abgeholzt, abgebrannt, nun Acker

Doch Landwirtschaft und Holzindustrie schreiten immer weiter voran. Laut einem Bericht von Greenpeace hat Argentinien zwischen 1998 und 2021 fast 7 Millionen Hektar Naturwald verloren – der Großteil davon im Gran Chaco. Abgeholzt, abgebrannt, in Ackerland verwandelt. Greenpeace spricht deshalb von einem „Waldnotstand“ in Argentinien.

Die Entwaldung hat zu einem erheblichen Anstieg der nationalen Treibhausgasmissionen geführt. Zahlen der Regierung zeigen, dass der Anteil aus Landwirtschaft, Viehzucht, Forstwirtschaft und Landnutzungsänderungen am Gesamtausstoß des Landes von 39 Prozent im Jahr 2018 auf 45 Prozent im Jahr 2020 gestiegen ist. Tiere verlieren ihren Lebensraum, Menschen ihre Subsistenzmittel.

Naturschutzorganisationen setzen sich dafür ein, den Gran Chaco zu schützen und seine Artenvielfalt zu erhalten. Und sie konnten einen Erfolg erzielen: Seit 2014 stehen 128.000 Hektar des Gran Chaco im Nationalpark El Impenetrable unter Schutz.

Tourismus als Lösung

Die private Stiftung Rewilding Argentina arbeitet mit der staatlichen Nationalparkverwaltung zusammen, um ausgestorbene Tierarten wieder anzusiedeln. Eine davon ist der Yaguareté – der amerikanische Jaguar, – der als ausgerottet galt und nun wieder durch den Gran Chaco streift. Als Spitzenprädator spielt er eine zentrale Rolle für das ökologische Gleichgewicht. Der Yaguareté und der Nationalpark ziehen immer mehr Besucher an – und für die lokale Bevölkerung ist der Tourismus eine zusätzliche Einkommensquelle.

Jorge Luna wohnt am Ufer des Flusses Bermejito, direkt gegenüber vom Nationalpark. Er vermietet inzwischen Kayaks an Touristen und hat einen Campingplatz eröffnet. Durch den Tourismus verdient er heute mehr, als er durch den Holzverkauf eingenommen hätte. Deshalb entschied er sich, die heimischen Bäume auf seinem Grundstück zu erhalten. „Die Touristen kommen wegen des Waldes. Und ich habe gemerkt, dass die Bäume mehr wert sind, wenn ich sie nicht fälle“, sagt er. Während viele junge Menschen aus der Umgebung in die Städte ziehen, weil sie keine Zukunft sehen, wollen seine Kinder nun bleiben und im Tourismus arbeiten.

Argentinien hat 2007 ein Waldschutzgesetz verabschiedet. Der Staat verlangt von den Provinzregierungen, zu bestimmen, welche Gebiete geschützt werden, Grenzen für die Abholzung festzulegen und Mittel für den Naturschutz bereitzustellen. Doch die Entwaldung schreitet trotzdem voran. Enrique Viale, argentinischer Umweltanwalt und Aktivist, dokumentiert mit der Asociación Argentina de Abogados Ambientalistas (Argentinischen Assoziation von Umweltanwälten) die Abholzung im Gran Chaco. „Wir sprechen von einer Abholzungs-Mafia“, sagt er. Viale war 2024 federführend bei einer Strafanzeige gegen Politiker, Beamte und Unternehmer in der Provinz Chaco. Sie Alegte dar, wie durch eine gesetzliche Änderung Tausende Hektar Wald ihren Schutzstatus verloren und zur Abholzung freigegeben wurden. Infolge der Anzeige ordnete die Justiz eine eine dreimonatige Aussetzung der Abholzungen an.

Der Druck für die Entwaldung geht laut Viale vor allem vom Sojaanbau und der Viehzucht aus. Außerdem werde der Quebracho wegen seines hohen Tanningehalts geföllt – ein Stoff, der in der Lederindustrie zum Gerben verwendet wird. 80 Prozent der argentinischen Sojaproduktion werden exportiert, auch nach Europa. Das geplante Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay dürfte die Nachfrage nach argentinischem Soja und Rindfleisch weiter anheizen – und damit die Ausdehnung von Sojafeldern und Weideflächen fördern – und damit zu noch mehr Entwaldung führen. „Um die Entwaldung zu stoppen, muss die Nachfrage sinken“, sagt Viale.

Die Umweltanwälte warnen, dass der Gran Chaco innerhalb von zwei Jahrzehnten verschwunden sein könnte, wenn die Entwaldung in der derzeitigen Geschwindigkeit anhält. „Der Chaco erhält nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie der Amazonas – nur wenige kennen ihn“, sagt der Anwalt. „Deshalb müssen wir uns zusammenschließen, um ihn zu beschützen“.

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