Großbritannien und die EU: Im Armenhaus der Brexiteers

In Ebbw Vale hat die EU nicht gegeizt: Krankenhaus, Sportzentrum, Schulen. Doch Thelma Lawrence's Enkel sind arbeitslos. Sie hofft auf den Brexit.

Straße mit englischen Reihenhäusern führt in unbebautes Gebiet

Arbeitersiedlung im walisischen Ebbw Vale. Die Hilfen aus Europa erfreuen nicht jeden Foto: Daniel Zylbersztajn

EBBW VALE/PORT TALBOT/BRIDGEND taz | Auf Ölgemälden sind schweißgetränkte Männer vor glühendem Stahl an Schmelzöfen zu sehen, Fotos zeigen gigantische Maschinenräume, dazu gibt es alte Eisenbahnschienen. Mittendrin sitzt Hugh Daniels, einer der Freiwilligen im Museum der Ebbw-Vale-Stahlwerke tief in der grünen Hügellandschaft von Südwales. Der 76-Jährige erzählt Besuchern von der guten alten Zeit, als hier noch eines der größten Stahlwerke der Welt stand. Das Museum befindet sich im ehemaligen Verwaltungsgebäude, einem roten viktorianischen Backsteinhaus mit Uhrenturm. Sonst ist kaum etwas übrig von diesem Industriedenkmal, dessen Geschichte 1789 begann und 2004 endete.

„Hier in diesem Raum verhandelten einst die Gewerkschaften mit der Geschäftsleitung“, erzählt Daniels. „Mein Vater, meine zwei Brüder und ich arbeiteten in den Works“ – the Works ist im Volksmund der Name für das riesige ehemalige Stahlwerk. Daniels arbeitete im Exportbüro, „von wo aus Stahl aus Ebbw Vale in alle Kontinente der Welt geschickt wurde“, schildert er stolz.

Doch als der britische Stahl auf den Weltmärkten unterboten wurde, ließ er sich zum Physiotherapeuten umschulen, mit 40 Jahren. „Viele taten es mir damals gleich und lernten neue Jobs.“ Andere nicht, so wie Ivor Rees, der heute 69 Jahre alt ist und immer noch in einem der Werkshäuser an der steilen Ostseite lebt. Manche der Gebäude und deren Vorgärten sehen verwahrlost aus, viele Fenster haben zugezogene Gardinen, die das Tageslicht kaum hereinlassen. „Ich war Kranführer. Als ich entlassen wurde, konnte ich in meiner Sparte nichts finden“, sagt Rees, am Motor seines alten Land Rovers hantierend. Er schlug sich bis zur Rente als Taxifahrer durch.

Nach der Klärung der wichtigsten Brexit-Fragen hoffen die EU und Großbritannien auf einen Deal beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag. Ausgemachte Sache ist das allerdings noch nicht. Die nordirische Partei DUP kündigte bereits Widerstand an.

Statt rußgefüllter Luft weht heute ein zarter Dunst über die walisischen Hügelketten. Statt 34.000 Menschen, die hier einst arbeiteten und wohnten, leben gerade noch 20.000 in Ebbw Vale. Die Arbeitslosigkeit ist zwar von gut 14 Prozent im Jahr 2012 auf mittlerweile 8,1 Prozent gesunken, aber viele jobben nur in Teilzeit oder sind Zeitarbeiter. Von den 70.000 Einwohnern des Landkreises Blaenau Gwent leben ein Viertel von Sozialhilfe, 10.000 nehmen Antidepressiva ein – Zahlen weit über dem britischen Durchschnitt.

Hochburg der Armut und der Brexit-Befürworter

Beim Referendum 2016 aber stimmten hier 62 Prozent für den Brexit, insgesamt waren es 21.857 Leave-Stimmen. Ebbw Vale und Umgebung sind Sinnbilder für den Wunsch nach dem EU-Austritt geworden. Ein Mann, der im Stadtzentrum einen E-Zigaretten-Laden führt, gibt an, dass britische Journalisten hier regelmäßig vorbeikämen, „um uns zu fragen, weshalb wir für den Brexit stimmten“.

Daniel Upham, Angestellter im Supermarkt

„Wenn Ford schließt und der Brexit kommt, wird sich die Situation noch verschlimmern“

Ja, warum? Eigentlich war die Europäische Union hier ganz besonders großzügig und spendabel. Mit Unterstützung des europäischen Entwicklungsfonds flossen mehrere hundert Millionen Pfund in das alte südwalisische Industrierevier. Ebbw Vale verfügt heute über ein riesiges neues Sportzentrum, fast so groß wie die alten Fabrikhallen, eine völlig neue Fachhochschule, ein neues Krankenhaus, ein neues Gymnasium, eine neue Bahnlinie, zwei Industrieparks, eine innovative Seilbahn, die vom Bahnhof ins Stadtzentrum auf den Hügel führt, und eine zweispurige Schnellstraße. Dazu gibt es zwei stählerne Denkmäler, darunter ein walisischer Drache.

Der Gewinner: Moe Forouzan

Zu den Gewinnern dieser Entwicklung gehört Moe Forouzan. Der Leiter des Unternehmensentwicklungsteams der Regionalbehörde hat sein Büro im gleichen Gebäude wie das Museum des früheren Stahlwerks, und er versprüht Optimismus: „Wenn ich aus meiner Tür gehe, sehe ich all die neuen Gebäude auf dem sanierten ehemaligen Industriegebiet. Die Hochschule beispielsweise gibt mir eigentlich nur Hoffnung.“

Drei Damen beim Café im Café

Thelma Lawrence (links) hat ebenso wie Diane Roberts (Mitte) für den Brexit gestimmt Foto: Daniel Zylbersztajn

Damit hat Forouzan nicht unrecht. Er erzählt, wie er Firmengründern hilft, ihre Vorstellungen umzusetzen, ohne Zwang und ohne Bewerbungen und Hürden, sondern durch das Vermitteln von Expertenwissen. „Leute hier wollen vor allem Workshops und Hallen, von denen aus sie ihre Ideen versuchen zu realisieren. Bisher haben wir 180 Einheiten, mit 600 Unternehmern“, sagt er stolz. Bald sollen auf dem Bahnhofsvorplatz neue Containereinheiten für Kleinunternehmen entstehen.

Forouzan vermittelt ein ansteckendes Wir-schaffen-es-Gefühl und verweist darauf, dass Ebbw Vale jetzt in Großbritannien unter den Top fünf für industrielles Wachstum sei – weil es nicht mehr auf Großunternehmen in einem einzigen Sektor setzt. Ein paar Kilometer weiter versucht eine andere Gruppe den ehemaligen Stahlwerken neues Leben einzuhauchen. Sie stellt Fabrikgebäude für Start-up-Unternehmen bereit und verzeichnet einige Erfolge. Eine Großkonditorei für Gebäcke mit Naturaromen arbeitet inzwischen hier, eine Glasfabrik und ein Labor, dass Lebensmittelallergene erforscht.

Die Verliererinnen: die Damen im Café

Diane Roberts ist all das egal. Was die die Betreiberin des Cafés mit Geschenkboutique in der alten Einkaufsstraße von den von der EU bezahlten Projekte hält? „Die Seilbahn geht oft nicht und fährt am Wochenende nur begrenzt. Das Krankenhaus ist eher eine Notaufnahme und hat am Wochenende geschlossen, und die Denkmäler bringen eigentlich auch nichts“, moniert Roberts. Die 70-Jährige zieht Bilanz: „Wir haben hier so viele Obdachlose und Menschen mit Suchtproblemen, dass Geschäfte schließen, weil sie genug von den Problemen mit diesen Menschen haben.“ Viele örtliche Buslinien hätten vor zwei Jahren dichtgemacht, viele Jugendliche zögen auf Nimmerwiedersehen weg. „Was nützt eine Ausbildung, wenn die jungen Leute danach keine Arbeit finden können und wegziehen müssen?“, fragt Roberts. Auch ihr eigener Umsatz sinke beständig. „Wenn es nicht besser wird, geben wir im Dezember auf. Dann gibt es noch einen mit Brettern zugenagelten Laden mehr.“

Diane Roberts, Café-Betreiberin

„Die EU ist weit weg, die können nicht verstehen, was wir hier wirklich brauchen, und überhaupt zahlen wir mehr ein, als wir zurückkriegen“

Im Café sitzt Thelma Lawrence, sie ist 84 Jahre alt. Sie erzählt, dass alle ihre Enkel arbeitslos sind. Sie findet das eine Schande im Vergleich zu ihrer Jugendzeit, als alle Menschen wussten, dass sie Arbeit haben. Aber was soll man schon machen, meint sie. „Wir brauchen neue Unternehmen, die herkommen und Leute einstellen.“

Infrastruktur allein hilft nicht an Orten, in denen den Menschen ihr ganz persönlicher Finanzhahn zugedreht worden ist. Das große Geld lässt viele noch entmachteter dastehen, mit dem Gefühl von Fehlinvestitionen aus Brüssel in gigantischer Dimension, wo es doch eigentlich nur darum geht, dass die Busse fahren oder die Enkel eine Arbeit finden. „Die EU ist weit weg, die können nicht verstehen, was wir hier wirklich brachen, und überhaupt zahlen wir mehr ein, als wir zurückkriegen“, glaubt Roberts.

Doch die Geschichte mit den Brüsseler Bürokraten, die ihr Geld in sinnlose Projekte steckten, sie stimmt nicht so ganz. Nach Angaben einer Sprecherin der Regionalbehörde Blae­nau Gwent gehen alle Projektanträgen auf regionale Vorstellungen und Wünsche zurück. Britische Politiker entscheiden über diese Projekte und stellten die entsprechenden Anträge an die EU.

Die beiden Alten im Café setzten dennoch, wie so viele hier beim Referendum von 2016, auf den Brexit – weil, wie Diane Roberts erklärt, von der Brexit-Kampagne versprochen worden sei, dass künftig eine Milliarde Pfund, die das Vereinigte Königreich pro Monat an die EU zahle, im Lande bleiben werde. Es könnte dann direkt „bei uns“ investiert werden, zum Beispiel dafür, dass die Müllabfuhr öfter als nur alle drei Wochen kommt, ist ihre Überzeugung.

Und wenn es mit dem EU-Austritt auch nicht besser wird? „Schlimmer als jetzt kann es kaum werden,“ sagt Diane Roberts. Vertrauen habe sie weder in Labour-Chef Jeremy Corbyn noch in Premierminister Boris Johnson. Auch wenn Labour seit fast einem Jahrhundert in Ebbw Vale die Politik dominiert, will die Cafébetreiberin bei den nächsten Wahlen Nigels Farages Brexit-Partei wählen. Sie sagt: „Wie es mit der EU war, wissen wir. Warum also nicht was Neues versuchen?“

Der frühere Stahlarbeiter setzt auf Europa

Hugh Daniels, der Freiwillige aus dem Stahlmuseum, sieht es jedoch genau andersherum. „Ich werde die Partei wählen, die uns den Verbleib in der EU garantiert, vielleicht die Liberaldemokraten“, sagt er. Daniels ist der Überzeugung, dass die EU-Anbindung gut ist, weil sie Jüngeren erlaube, im europäischen Ausland zu arbeiten, so wie damals, als die Stahlwerke zum ersten Mal Leute entließen und nicht wenige einen neuen Job in den Niederlanden fanden. Doch auch er ist unzufrieden. Seine beiden Kinder leben nicht mehr hier. Seine Enkelkinder sieht er nur auf Skype. Die neue Bahnlinie und Straße bedeuteten nur, dass junge Leute noch leichter weggehen, findet er, und die fehlten hier nicht nur, wenn er im Chor singt.

Für die junge Generation bietet die Region kaum eine Perspektive. Vor einem Hauseingang steht die 17-jährige Megan Williams neben ihrer Mutter Michelle. Wird sie hierbleiben, wenn ihre Kosmetiklehre beendet ist? Nein, hier gebe es nicht genug Möglichkeiten, antwortet sie. Ihrer 52-jährige Mutter stand in den 1980er Jahren nur ein Job als Putzfrau offen. Sie hat noch eine zweite, ältere und behinderte Tochter. In Ebbw Vale gebe es für sie keine ausreichende Unterstützung, erzählt sie. Ein Londoner Krankenhaus war zu einer empfohlenen komplizierten Operation bereit, doch das autonom verwaltete walisische Gesundheitssystem wollte diese in England nicht bezahlen. Sie glaubt, dass der Brexit die Sachen nur verschlimmern kann. Politikern mag sie überhaupt nicht mehr glauben.

Massenentlassungen stehen bevor

Was Ebbw Vale schon hinter sich hat, steht anderen Orten in Südwales noch bevor. In den Küstenre­gio­nen bahnen sich Massenentlassungen an. Im nächsten Jahr schließt in Bridgend die Ford-Autofabrik, weil die Nachfrage nach den dort produzierten Benzinmotoren sinkt, 1.400 Arbeitsplätze werden dort verloren gehen. In Port Talbot steht das Tata-Stahlwerk mit 4.000 Arbeitsplätzen auf der Kippe. Die große soziale Krise kommt hier erst noch.

Bei einem Bier vor einer Bar in Bridgend, einem hübschen kleinen Städtchen, erzählen Roy Southam und Daniel Upham, beide 30 Jahre alt, dass sie sich mit ihren Jobs als Angestellte auf Abruf in Supermärkten ohne garantierte Mindestarbeitszeit zu denen rechnen können, die noch Glück gehabt haben. Andere hätten gar keine Arbeit, und manche von denen – zu viele, sagt Southam – endeten als Obdachlose und Drogensüchtige auf der Straße und randalierten in der Fußgängerzone. „Wenn Ford schließt und der Brexit kommt, wird sich die Situation mit Sicherheit verschlimmern“, glaubt Upham. Dem gelte es vorzubeugen. Upham bewirbt sich deshalb gerade als Polizeibeamter. Da hat die Regierung gerade 20.000 Neueinstellungen angekündigt. Andere Befragte erzählen von Verwandten, die „sicherere Karrieren“ in der britische Armee oder dem nationalen Gesundheitssystem anstreben. Die beiden Männer geben an, beim Referendum den Brexit abgelehnt zu haben. Der Grund? Upham arbeitete schon mal in Dänemark, und auch Southam glaubt, dass offene Grenzen zu Europa für die Industrie besser seien.

Im von Bridgend 25 Kilometer entfernten Port Talbot, wo sich das Tata-Stahlwerk kilometerlang am Strand entlangzieht und ein Schiff mit Kohle auf seine Entladung wartet, sagt der Ingenieurunternehmer Gary Wade beim Spaziergang mit seinem Hund: „Wenn Tata dichtmachen, ist es auch das Ende für uns.“ Vielleicht werde er woanders Arbeit finden, vielleicht müsse er sich mit 50 Jahren nochmals umschulen lassen, meint er und versucht dabei tapfer zu lächeln.

Und was denken jüngere Menschen im benachbarten Port Talbot? Der 16-jährige Rhys, dessen Vater, wie er sagt, für den Brexit gestimmt hatte, will Elektrotechnik studieren, wegen der Wende hin zu Elektromotoren. Er und seine 15-jährige Freundin Rosie glauben, dass sie wegen des Arbeitsplatzmangels bald wegziehen werden. „Die kohlige Luft hier ist sowieso miserabel und schlecht für unsere Gesundheit“, urteilt Rhys über seine Heimatstadt. Wenigstens das mag bei der Schließung des Stahlwerks ein Ende haben.

Ivor Rees, früher Kranführer aus dem Stahlwerk in Ebbw Vale, glaubt, dass die Werke in Port Talbot und Bridgend noch zu retten sind. Er hat eine Empfehlung an seine Landsleute, die auf seiner eigenen Vergangenheit basiert, damals, als sich Berg- und Stahlarbeiter auseinanderdividieren ließen. „Um zu gewinnen, müssen die Leute sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, sondern sie müssen gemeinsam eine Front bilden und für ihre Jobs kämpfen“, glaubt er.

In einem leeren Fußgängertunnel in Port Talbot, in der Nähe eines Einkaufszentrums, nicht weit von der Stahlfabrik, hat jemand Rees Warnung auf eine Wand geschrieben. „When none stand, all fall.“ Wenn niemand aufsteht, fallen alle.

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