Grubenkatastrophe in der Türkei: Tränengas gegen Trauernde

Nach dem Zechenunfall in Soma schwanken die Menschen zwischen Trauer und Wut. Angehörige gehen von vielen Hundert Toten aus.

Nach und nach werden die Gräber gefüllt. Bild: ap

ISTANBUL taz | Die Gesichter schwarz, der Protest stumm – überall in der Türkei versammelten sich am Donnerstag Menschen auf öffentlichen Plätzen, legten in den Fabriken die Arbeit nieder oder blockierten Zufahrten zu Berkwerken und Betrieben. Zu den Arbeitsniederlegungen aufgefordert hatten mehrere Gewerkschaftsdachverbände, darunter auch die als staatsnah bekannte Gewerkschaftsföderation „Türk Is“.

Bereits am Mittwochabend hatten sich in Istanbul spontan Tausende Demonstranten auf der Fußgängerzone Istiklal Caddesi versammelt, um gegen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) zu protestieren.

Friedlich zogen sie in Richtung Taksimplatz – trotzdem griff die Polizei den Demonstrationszug auf halber Strecke an. Ohne Vorwarnung traten Wasserwerfer in Aktion, ganze Hundertschaften von Polizei schossen mit Tränengas und Gummigeschossen in die Menge. Greiftrupps stürmten zwischen die fliehenden Menschen und nahmen wahllos jeden fest, den sie erwischen konnten.

Doch das hielt die Leute nicht davon ab, am Donnerstag erneut auf die Straße zu gehen. In Istanbul versuchten Demonstranten, den Zufahrtsweg zum Sitz der Soma Holding, der Betreibergesellschaft des Unglücksbergwerks, zu blockieren. Erneut schritt die Polizei brutal ein.

Erdogan streitet mit Angehörigen

Trotzdem dürfte Erdogan die „Mörder“-Rufe und Rücktrittsforderungen dieses Mal nicht so leicht wegstecken, wie in der Vergangenheit. Am Mittwochnachmittag hat der Premier die Wut der Menschen erstmals in seiner 11-jährigen Regierungszeit hautnah erlebt. Angehörige verschütteter Bergleute gingen auf sein Auto los, trommelten aufs Dach und traten gegen die Türen.

Minen: Für Bergarbeiter ist die Türkei eines der gefährlichsten Länder der Welt. Laut einer Studie des unabhängigen türkischen Instituts für Wirtschaftsforschung TEPAV starben dort 2010 in pro 1 Million Tonne geförderte Kohle durchschnittlich 7,2 Arbeiter - und in China lediglich 1,27.

Werften: Aber nur 10 Prozent der tödlichen Arbeitsunfälle ereignen sich im Bergbausektor. Der zweitriskanteste Arbeitsplatz ist laut Gewerkschaftsverband Disk der Schiffsbau. Vor allem in den großen Werften am Marmarameer häuften sich vor vier, fünf Jahren die tödlichen Unfälle. Erst nach massiven Gewerkschaftsprotesten und einem Rückgang der Produktion hat die Zahl der Unfälle abgenommen.

Bau: Auch im Boomsektor der türkischen Wirtschaft sind tödliche Unfälle häufig. Die Branche ist berüchtigt für illegale Beschäftigung. Viele Unfälle werden nicht gemeldet, weil die Opfer ausländische Schwarzarbeiter sind.

Landwirtschaft: Jedes Jahr erkranken bei der Ernte von Baumwolle und Zitrusfrüchten viele Pflücker aufgrund der dort eingesetzten Pestizide. (Jürgen Gottschlich)

Obwohl der Ministerpräsident vor seinem Besuch am Unfallort 3.000 Polizisten nach Soma geschickt hatte, konnte diese nicht verhindern, dass sein Fahrzeug von der wütenden Menge gestoppt wurde. Umringt von Bodygards kam es zu einem heftigen Wortwechsel zwischen Erdogan und Angehörigen von Bergleuten, die seinen Rücktritt forderten. Dabei soll Erdogan persönlich einen Demonstranten geohrfeigt haben, hieß es aus Soma über Twitter.

Von Erdogans Rede am Unglücksort waren die Bergarbeiter zutiefst enttäuscht. Mit steinerner Mine erklärte ihnen ihr Regierungschef, dass Unfälle nun mal zum Bergbau gehörten. Das sei „traurig – aber unvermeidbar“.

Dabei stellt sich nach und nach heraus, dass zumindestens dieser Unfall wohl durchaus vermeidbar gewesen wäre. Ein veralteter Trafo auf 400 Meter unter Tage und marode Elektroleitungen waren wohl die Ursache für den Brand. Die Mine war 2005 von der Regierung an die private Soma Holding weitergereicht worden – mit der Auflage, jährlich 6 Millionen Tonnen an den türkischen Staat abzuliefern. Was darüber hinaus aus dem Bergwerk geholt wird, bleibt dem Betreiber.

Der hat nach Angaben von Bergarbeitern seitdem praktisch nicht mehr in die Anlage investiert. Die Ausbeute wurde durch immer mehr Leiharbeiter gesteigert. Zwei Unfälle mit Todesfolge vor der aktuellen Katastrophe ignorierte das aufsichtführende Energieministerium genauso, wie Warnungen von Gewerkschaften. Die jährlichen Kontrollen hatten lediglich demonstrativen Charakter.

„Gül, hau ab“

Wie wütend die Menschen in Soma sind, bekam am Donnerstag Staatspräsident Abdullah Gül zu spüren: Als er am Tag nach Erdogans Besuch mit Parlamentspräsident Cemil Cicek am Unglücksort ankam, rief die Menge: „Gül, hau ab, wir wollen dich nicht sehen.“

Der Ablauf der Katastrophe von Soma.

In der Stadt fanden am Donnerstag die ersten Beerdigungen statt. Auf einem Feld in der Nähe der Grube haben städtische Arbeiter eine lange Gräberreihe ausgehoben, die nach und nach mit toten Bergarbeitern gefüllt wird. Am Nachmittag zählte man offiziell 282 Tote. Doch selbst Energieminister Taner Yildiz, der als einziges Kabinettsmitglied seit Dienstagabend vor Ort ist, meint, für die noch immer eingeschlossenen Bergleute gebe es wohl keine Hoffnung mehr.

Angehörige sprechen von sehr viel mehr Toten. Auf Fox-TV behauptete ein Bergarbeiter, in den Kühllagern Somas lägen bereits jetzt 545 Leichen. Die Branchengewerkschaft Maden Sen erklärte am Donnerstagnachmittag, der Unfall sei eine der weltweit schlimmsten Arbeitskatastrophen der Geschichte. Noch immer wüsste niemand sicher, wie viele Arbeiter zum Zeitpunkt des Unglücks in der Grube gewesen seien. Sicher sei, dass dort viele Leih- und Schwarzarbeiter gearbeitet hätten, darunter auch Jugendliche unter 18 Jahre.

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