Grüne Dilemma um Stuttgart 21: In der Volksabstimmungs-Falle

Müssen am Ende ausgerechnet die Grünen den S21-Tiefbahnhof bauen? Die Volksabstimmung im Herbst wird kaum zu gewinnen sein. Aber noch gibt es grüne Hoffnung.

Der Politikwechsel beginnt? Der Politikwechsel zerrinnt? Wie es auch sei, Herr Kretschmann hat auch schon mal fröhlicher geguckt. Bild: dpa

STUTTGART taz | Es war der Moment, in dem Winfried Kretschmann zum ersten Mal richtig zu spüren bekam, was es heißt, regieren zu müssen. Der Presseraum ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Alle Kameras sind auf den designierten Ministerpräsidenten Baden-Württembergs gerichtet.

"Wenn es ein Ergebnis gibt, das sagt, dass Stuttgart 21 gebaut werden soll, dann haben wir uns an das zu halten", sagt er. Auf die entscheidende Nachfrage, ob das auch gelte, wenn das Quorum nur knapp verfehlt würde, fügt er kurz und präzise hinzu: "Ja."

Von nun an weiß der Grünen-Politiker, was es heißt, nicht mehr nur als Oppositionspartei nach einer Volksabstimmung zu rufen, sondern sie umsetzen zu müssen. Was es heißt, sich nicht nur politisch, sondern auch juristisch um das heikle Thema kümmern zu müssen. Sich mit einem Koalitionspartner abzusprechen und sich auf die exakte Ausformulierung zu einigen. Bei dieser ersten Regierungserfahrung haben die Grünen eine Niederlage eingesteckt.

Der Stresstest: Die Ergebnisse des Stresstests, auf den sich alle Beteiligten des Schlichtungsverfahrens unter der Leitung von Heiner Geißler (CDU) im vergangenen Jahr geeinigt hatten, sollen bis Juni vorliegen. Es gilt den Beweis zu erbringen, dass in der Spitzenzeit von 7 bis 8 Uhr ein Drittel mehr Züge fahren können. Sollte diese Zielmarke verfehlt werden und sollten deshalb die Gesamtkosten die Grenze von 4,5 Milliarden Euro übersteigen, will das Land keine weiteren Gelder zuschießen. Von den bisherigen Kosten von 4,1 Milliarden Euro trägt das Land etwa ein Drittel. Etwaige Mehrkosten müsste dann entweder der Bund oder die Deutsche Bahn selbst übernehmen.

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Die Verfassungsänderung: Nach der Landesverfassung müsste mindestens ein Drittel aller Wahlberechtigten für das Ausstiegsgesetz aus Stuttgart 21 stimmen. Das wären 2,5 Millionen Einwohner. Zum Vergleich: Bei der Landtagswahl gaben 1,2 Millionen Wähler ihre Stimme den Grünen. Die Hürde gilt als unüberwindbar. Grün-Rot strebt deshalb eine Erleichterung von Volksabstimmungen an. Für eine Verfassungsänderung zur Absenkung des Quorums bräuchte Grün-Rot jedoch die Stimmen der CDU. Diese hatte immerhin in der vergangenen Legislaturperiode selbst ein Gesetz zur Absenkung des Quorums auf ein Viertel der Wahlberechtigten vorgelegt. Dieses Gesetz wiederum hatten Grüne und SPD damals abgelehnt, weil ihnen die Absenkung nicht weit genug ging.

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Die Volksabstimmung: Sollte das Projekt nicht schon vorher wegen zu hoher Kosten gestorben sein, wären die Bürger des Landes im Oktober dazu aufgerufen, ihr Votum zum Bahnhof abzugeben. Nicht abgestimmt werden soll dabei über die geplante ICE-Neubaustrecke nach Ulm. Bis zur Abstimmung soll die Bahn ihren Bau- und Vergabestopp verlängern. Wer dies bezahlen würde, müssen Land und Bahn noch verhandeln.

Am vergangenen Mittwoch haben sich die Grünen nach drei Verhandlungsrunden mit der SPD darauf geeinigt, die Volksabstimmung zum umstrittenen Bahnprojekt durchzuführen – auch mit dem Quorum, dass ein Drittel aller Wahlberechtigten für das Ausstiegsgesetz stimmen muss. Die Grundlage dafür hatten der ehemalige Stuttgart-21-Projektsprecher Wolfgang Drexler (SPD) und der Verkehrsexperte der Grünen-Landtagsfraktion Werner Wölfle in einem Vieraugengespräch am Vormittag geschaffen.

Die Grünen lösen damit ein zentrales Wahlversprechen ein, das allerdings gar nicht ihre Position ist. Mit dem jetzigen Quorum werden sie Stuttgart 21 kaum stoppen können, doch genau das wollen sie. Sie befinden sich in einem Dilemma.

Der Fehler des Verfassungspatrioten

Angefangen hatte alles mit einem klugen Schachzug der SPD und einem Fehler ausgerechnet des Mannes, der sich selbst als Verfassungspatriot bezeichnet. Im Protestsommer 2010 schlug die SPD erstmals eine Volksabstimmung vor. Kretschmann nahm diesen Vorschlag damals dankend an, denn erst dieser ließ eine grün-rote Koalition vorstellbar werden. Die Volksabstimmung war die einzige Gemeinsamkeit zweier Parteien, von denen die eine strikt für den Bahnhofsbau ist (SPD) und die andere strikt dagegen (Grüne).

Doch bevor die grünen Wahlplakate mit der Formel "Volksabstimmung jetzt" gedruckt wurden, hätte Kretschmann einen Blick in Artikel 60 der Landesverfassung werfen sollen. Was das dort genannte Quorum bei einer Volksabstimmung für seine Partei bedeuten könnte, hatte er damals noch nicht so recht bedacht. Dass mindestens ein Drittel aller Wahlberechtigten für ein Ausstiegsgesetz stimmen müsste, ist eine fast unüberwindbare Hürde für die Neubaugegner.

Sollte also womöglich eine Mehrheit für den Baustopp votieren, das Quorum aber nicht eingehalten werden, hätten die Grünen ein Problem. Eine derartige Volksabstimmung würde zu allem beitragen, nur nicht zu einer Befriedung des Konflikts um das Großprojekt.

Was die Grünen damals versäumt hatten, versuchten sie jetzt in den Verhandlungen mit der SPD nachzuholen – vergebens. Ein relativierender Satz für den Fall des Scheiterns am Quorum fehlte im Wahlkampf und fehlt nun in der Koalitionseinigung. Auf Winfried Kretschmann warten jetzt harte Auseinandersetzungen – innerparteilich und auf der Straße.

Nur wenige Stunden nach dem verkündeten Kompromiss deutete Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer die Vereinbarung um. "Ich habe verstanden, dass das Ergebnis des Volksentscheids für uns verbindlich ist, wenn eine Mehrheit sich für Stuttgart 21 ausspricht – unabhängig vom Quorum", sagte er.

Palmer war es auch, der das Klima bei den Koalitionsverhandlungen kritisiert hat. Er saß in der Arbeitsgruppe Verkehr mit am Tisch, ebenso wie er damals auch in der Schlichtung zu Stuttgart 21 saß, im Gegensatz zu SPD-Politikern. In 27 der 28 Arbeitsgruppen sei das Verhandlungsklima gut. "Aber bei Stuttgart 21 ist manches für mich schwer auszuhalten. Herr Schmiedel sagt, eine ICE-Strecke dürfe nicht in einen Kopfbahnhof geführt werden. Und das nach 80 Stunden Schlichtung!", sagte Palmer.

Claus Schmiedel ist Fraktionschef der SPD. Mit ihm und Drexler auf der einen Seite sowie Palmer, Wölfle und dem Vorsitzenden des Verkehrsausschusses im Bundestag, Winfried Hermann, auf der anderen Seite war häufig die Rede von zwei aufeinander zu rasenden ICEs. In der dritten Verhandlungsrunde scheint der grüne ICE im letzten Moment ausgewichen zu sein.

Kretschmann bekräftigte am Donnerstag noch einmal den Beschluss der Koalition. "Wir machen die Volksabstimmung nach Artikel 60, und das gilt", sagte er. Auch als Reaktion auf die abweichende Interpretation seines Parteikollegen Boris Palmer.

Wenn es Kretschmann nach dieser Niederlage nicht gelingen sollte, seine Partei auf eine klare Linie zu bringen, wird es das Misstrauen zwischen Grünen und SPD noch verschärfen, das in der Arbeitsgruppe Verkehr zutage getreten war. Wenn man interne Aussagen und Vorwürfe entsprechend deutet, könnte man fast meinen, es hätten sich in den Verhandlungen Bahn-Sprecher und Demonstranten gegenübergesessen.

Demonstrieren Grüne gegen Grüne?

Aber nicht nur innerparteilich haben die Grünen jetzt einiges zu klären. Nach wie vor sind sie auch Mitglied im Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21. Bündnisvertreter haben den Kompromiss umgehend kritisiert. "Eine Befriedung des Konfliktes in der Bevölkerung ist damit nicht erreichbar", erklärten sie.

Nach der Wahl hatten sich die Grünen entschlossen, im Bündnis gegen Stuttgart 21 zu bleiben. Sollten sie also womöglich bald auf der Straße gegen ihre eigenen Regierungsbeschlüsse demonstrieren? Es könnte so wohl die Partei zerreißen. Und das Bündnis wie auch die Koalition enorm belasten. Auch wenn SPD-Landeschef Nils Schmid beteuerte: "Die Koalition stand nicht auf der Kippe."

So bleibt den Grünen zu Beginn ihrer historischen Regierungszeit nichts anderes als das Prinzip Hoffnung. Die Hoffnung heißt: Stresstest. Sie müssen hoffen, dass der Bahnhof nicht die geforderte Leistung von plus 30 Prozent in der Spitzenstunde bringt. Dass die Gesamtkosten damit deutlich über 4,5 Milliarden Euro steigen. Von den bisherigen Kosten von 4,1 Milliarden trägt das Land Baden-Württemberg etwa ein Drittel. Übersteigt der Preis die Grenze von 4,5 Milliarden Euro, will Grün-Rot keinen Cent mehr bezahlen. Dann müssten sich der Bund und die Deutsche Bahn überlegen, ob sie draufzahlen.

Also müssen die Grünen ausgerechnet auf die CDU hoffen. Darauf, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel kein Interesse mehr an dem Jahrhundertprojekt hat, weil das ehemalige Stammland nicht mehr in Unions-Händen liegt. Oder darauf, dass die Südwest-CDU sich doch noch bereit erklären wird, das in der Verfassung verankerte Quorum von 33 auf 25 Prozent abzusenken. Denn dafür wären Grüne und SPD auf Stimmen aus dem schwarz-gelben Lager angewiesen.

Die Christdemokraten lehnten dies jedoch sofort ab. "Es gibt dafür gar keinen Anlass", sagte der Fraktionschef der CDU, Peter Hauk. "Wer Volksabstimmung plakatiert, muss sie einfach umsetzen." Das hat auch Winfried Kretschmann verstanden.

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