Grüne über koloniale Erinnerungskultur: „Noch viele blinde Flecken“

Ulle Schauws, kulturpolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion, über die fehlende Reflexion der deutschen Kolonialherrschaft.

Schwarz-Weiss-Bild mit Soldaten, wirkt sehr alt.

Deutsche im Kampf gegen die Hereros, 1904. Foto: Friedrich Rohrmann/dpa

taz: Frau Schauws, gehört Erinnerungskultur zu den Grundfesten eines demokratischen Staats? Wo muss er lenkend eingreifen, wann sollte er sich vornehm zurückhalten?

Ulle Schauws: Erinnerungskultur geht alle Menschen an. Sie darf niemanden ausschließen. Kollektives Erinnern kann sich nicht gegen andere Kollektive richten. Das heißt, es geht in der Debatte zur Erinnerungskultur auch um den Kampf um historische Wahrheiten. Erinnerungskultur ist daher konfliktorientiert. Gedenkrituale, so wichtig sie sind, verdecken dieses Konfliktpotenzial und auch andere Perspektiven — so etwa von Menschen mit Migrationsgeschichte. Es geht also um einen Aushandlungsprozess. Und der spielt aus meiner Sicht im öffentlichen Gedenken eine noch viel zu geringe Rolle.

Heißt „konfliktbeladen“, dass Meinungen auseinandergehen?

Es gibt Unterschiede, so wie es subjektive Wahrnehmungen gibt. Grundlage einer demokratischen Gesellschaft ist, dass alle Menschen mit dem, was sie mitbringen, und dem, was sie erinnern, in ihr vorkommen müssen. Aber diese Veränderung, die wir gesellschaftspolitisch in den letzten 70 Jahren auch als Einwanderungsgesellschaft vollzogen haben, bildet sich in „unserer deutschen“ Erinnerungskultur nicht ab.

geboren 1966, ist Medienwissenschaftlerin und war viele Jahre als Fraktionsgeschäftsführerin der Grünen im Rat der Stadt Krefeld aktiv. Seit 2013 ist sie Mitglied im Deutschen Bundestag und Sprecherin für Kulturpolitik und Frauenpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Im Zeitraum der letzten 70 Jahre liegt die Geschichte der Bundesrepublik. Können Sie anhand einiger für Sie bedeutsamer Gedenkorte und -rituale benennen, wie Erinnerungskultur Teil dieser Geschichte war?

Die 68er haben sicherlich ihre Elterngeneration zuerst damit konfrontiert: Was ist im Dritten Reich passiert? Warum habt ihr euch nicht gegen den Nationalsozialismus gestellt? Diese von der Zivilgesellschaft erkämpfte Debatte über Verschweigen und Verdrängen hat dazu beigetragen, dass die Aufarbeitung des Nationalsozialismus vorankam. Zuvor war in diesem Land eine gewisse Unfähigkeit spürbar, eine Unfähigkeit zu trauern, zur Schuldanerkennung einzelner Personen. Ein zentraler Einschnitt in der bundesdeutschen Geschichte, auch für mich persönlich, war die Erstausstrahlung der TV-Serie „Holocaust“ 1979. Diese schauten wir gemeinsam zu Hause. Die Serie hat das Erinnern an die NS-Gräueltaten und das millionenfache Schicksal vieler Menschen sehr geprägt. Jahre später hat die Wehrmachtsausstellung Debatten entfacht. Auf staatlicher Ebene war die Rede Richard von Weizsäckers wichtig, 40 Jahre nach Kriegsende. Sie hat dazu beigetragen, dass anders erinnert wurde und sich Deutschland nicht mehr so leicht als Opfer darstellen konnte. Der 1996 ins Leben gerufene Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus ist natürlich sehr wichtig.

Erinnerungskultur bleibt also nicht statisch?

Nein, sie ist in Bewegung, so wie auch Sprache immer in Bewegung ist. Es ist die Geschichte unseres Einwanderungslands. Vor diesem Hintergrund gibt es noch viele blinde Flecken.

Ulle Schauws

„Der Kolonialismus gehört zur Vorgeschichte der Globalisierung.“

Die deutsche Kolonialherrschaft in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, endete am 9. Juli 1915. Was sind die drängendsten Aufgaben, um diesem Thema überhaupt gerecht zu werden?

Die fehlende Auseinandersetzung Deutschlands mit dem Thema hat vielleicht auch damit zu tun, dass sich Deutschland immer als die kleinere, sozusagen „harmlosere“ Kolonialmacht sah. Trotzdem, es hat die Massenmorde in Afrika gegeben und Deutsche haben hier viel Unrecht begangen.

Sie nehmen Bezug auf den Herero-Aufstand?

Genau. Unsere Aufgabe ist es daher, eine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in Gang zu bringen und ihn mit anderen historischen Perioden in Beziehung zu setzen. Es ist nicht nur so, dass wir eine historische Verantwortung haben, der Kolonialismus gehört auch zur Vorgeschichte der Globalisierung. Daraus ergeben sich aktuelle Fragen: Wie hat kolonialistisches Denken unser Bewusstsein verändert und wirkt es bis heute fort? Interessanterweise wird in der Flüchtlingsdebatte das Thema Kolonialismus ja weitgehend ausgeblendet, obwohl die Flüchtlingsbewegungen ohne den Kolonialismus gar nicht zu denken sind.

Etwa die willkürlichen kolonialen Grenzziehungen, die in Afrika existieren?

Die Entwicklung der sogenannten Ersten, Zweiten und Dritten Welt hat natürlich mit der Kolonialgeschichte zu tun. Und die Auswirkungen 100 Jahre später auszublenden, so wie dies etwa das Auswärtige Amt tut, das geht nicht. Bis heute prägen kolonialistische Bilder unser Denken und unsere Vorstellungen des „Fremden“. Wir brauchen daher eine kritische Auseinandersetzung mit rassistischen Kolonialbildern in unserer Gesellschaft. Rechte Kräfte wie Pegida oder AfD bedienen sich dieser manchmal nur unbewussten Bilder.

Sprechen Sie damit auch alte Straßennamen an, die umbenannt werden sollten?

Es fehlt an der Sensibilität, zum Beispiel Straßen, die Namen von einschlägigen Kolonialisten tragen, umzubenennen. Da ist bisher wenig Bewusstsein da, dass man dies ändern muss. Umso wichtiger sind zivilgesellschaftliche Initiativen wie Berlin Postkolonial oder Freiburg Postkolonial, die sich für Umbenennungen einsetzen. Es ist interessant, dass wie bei der Aufarbeitung des NS auch jetzt wieder die Zivilgesellschaft ihre Stimme erheben muss, damit etwas passiert.

Was würden Sie sagen, ist innerhalb des Kontextes der Kolonialzeit am dringlichsten?

Unsere Erinnerungskultur ist auch davon geprägt, dass wir die Verantwortung übernehmen für das, was passiert ist. Dazu gehört eben, sich dort, in den Ländern, in denen man für Massenmorde verantwortlich war, entschuldigt und offiziell anerkennt, dass das ein Völkermord war. Das ist ein erster Schritt, der staatlich passieren muss, um sich weiter auseinandersetzen zu können. Es geht um Respekt vor denen, die auf der anderen Seite am Verhandlungstisch, etwa in Namibia, sitzen. Man redet viel miteinander, es gibt gemeinsame Projekte. Aber es ist trotz allem allein an Deutschland, klar zu benennen, was passiert ist. Verantwortungsübernahme lässt sich nicht im Dialog klären. Nicht nur, dass Erinnerungskultur bewahrt und erweitert werden muss.

Sie sprechen auch davon, dass die Einwanderer, die zu uns kommen, eigene Themen mitbringen, an die sie sich erinnern. Was bedeutet das?

Der Knackpunkt ist, dass es im Prinzip gar keinen Resonanzboden gibt für diese Erinnerungen. Weder in Schulbüchern noch in Gedenkstätten gibt es Konzepte, in denen Menschen mit Migrationsgeschichte ihre Erinnerungen, ihre Verfolgungsgeschichten und Opfererfahrungen widergespiegelt sehen. Es fehlt an einer systemischen Beschäftigung, und das muss Teil des Aushandlungsprozesses werden. Inklusion und Teilhabe müssen sich auch in den Formen und Formaten der Erinnerungskultur etablieren.

Die Pädagogin Astrid Messerschmidt hat von der „prämigrationsgesellschaftlichen Bewusstseinslage“ gesprochen, die in der Phase nach der Wiedervereinigung eine eingehende Beschäftigung mit Deutschland als Einwanderungsland verhindert habe. Hat denn die rot-grüne Koalition zu ihrer Regierungszeit bei diesem Thema auch etwas verschlafen?

Wir haben unter Rot-Grün angefangen, dieses Brett zu bohren. Die Anerkennung der gesellschaftlichen Grundtatsache, dass wir eine heterogene und eine Einwanderungsgesellschaft sind. Da muss es weitergehen. Aber wir sind jetzt an einer Stelle, wo wir mit einer sehr sichtbaren rechten Bewegung konfrontiert werden, die die Grundtatsache des Einwanderungslands infrage stellt. Es wird wieder die Unterscheidung „Da sind wir und da sind die“ aufgemacht. Das reicht bis in die bürgerliche Mitte. Deshalb müssen wir für die Vielfalt der Gesellschaft jeden Tag aufs Neue kämpfen.

Wie beurteilen Sie die Erinnerungskultur des Regierungslagers? Sehen Sie auf dem Feld der Erinnerungskultur Verbesserungsbedarf?

Im Koalitionsvertrag wurde angekündigt, dass die Aufarbeitung der NS-Zeit in den Ministerien vorangebracht werden soll. Das ist ursprünglich eine Initiative von uns Grünen gewesen, die Joschka Fischer im Auswärtigen Amt begonnen hat. Renate Künast hat dies als Ministerin im Landwirtschaftsministerium ebenfalls gemacht. Und die Bundesregierung hat jetzt nach vielen Jahren Stillstand nicht wirklich etwas vorangebracht. Gerade im Kanzleramt wird die Aufarbeitung nicht in Angriff genommen. Wir müssen die Bundesregierung treiben. Genauso muss man aber den blinden Fleck Kolonialismus dann auch in den Blick nehmen. Darum haben wir zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte jetzt einen Antrag eingebracht und gesagt, diese Auseinandersetzung muss nun endlich stattfinden.

Was muss Erinnerungskultur leisten, um zukunftsfähig zu sein?

Ich will keine Reihenfolge machen. Aber es ist wichtig, die deutschen Verbrechen nicht zu vergessen.

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