Grünen-Chef Felix Banaszak: „Ich nenne es radikale Ehrlichkeit“
Die Grünen wollen wieder zur führenden Partei der linken Mitte werden. Felix Banaszak über Empathie, Feigheit und populistischen Unsinn.

taz: Herr Banaszak, die Bundestagswahl ist ein halbes Jahr her. Seitdem stehen Sie bei den Grünen in der ersten Reihe. Wie anstrengend waren die letzten Monate?
Felix Banaszak: Sie waren schon aufreibend. Eine Partei, die bei der Wahl deutlich hinter ihren Erwartungen bleibt, analysiert ja nicht nur sachlich. Sie muss emotional wieder aufgebaut werden – zum Beispiel dort, wo Abgeordnete aus dem Parlament geflogen sind. Aber bei dieser Rückschrittsregierung ist klar, wofür wir das tun – das motiviert den Laden enorm.
35, führt die Grünen in einer Doppelspitze mit Franziska Brantner. Von 2018 bis 2022 war er grüner Landesvorsitzender in Nordrhein-Westfalen und von 2013 bis 2014 Sprecher der Grünen Jugend.
taz: Wer die Grünen nach der Ära Habeck/Baerbock sein wollen, ist aber weiter offen. Eine neue Strategie gibt es noch nicht. Höchstens einzelne, teils auch widersprüchliche Vorschläge.
Banaszak: Das teile ich nicht. Zwischen Partei- und Fraktionsspitze sind wir uns über die Richtung sehr einig: Wir geben der Partei ein schärferes Profil, vertreten unsere Werte wieder offensiver, machen die Grünen wieder grüner. Es braucht in dieser Zeit eine politische Kraft, die die Dinge offen benennt und nichts beschönigt – die ökologischen Krisen, das Erstarken des Rechtsextremismus, den Zusammenbruch der Weltordnung. Ich nenne es radikale Ehrlichkeit, und wenn man mit der nicht abstoßen will, braucht es dazu ein Zweites: Empathie.
taz: Wie geht das zusammen?
Banaszak: Auf meiner Sommerreise war ich in den ostdeutschen Bundesländern. Ich habe bewusst Orte besucht, wo der Applaus nicht auf uns wartet, wo die Luft brennt. An manchen davon sind Leute und Initiativen damit beschäftigt klarzukommen, weil sie beispielsweise das letzte soziokulturelle Zentrum in der Region leiten und befürchten, dass ihnen aus politischen Gründen die Gelder gestrichen werden. Immer wieder ist mir die Erwartung begegnet, dass die Grünen einen Gegenentwurf zur allgemeinen Rechtsverschiebung bieten. Das ist auch mein Anspruch. Bei der Bundestagswahl haben das viele nicht mehr wahrgenommen.
taz: Und die anderen Orte?
Banaszak: Dort bleibt der Applaus aus, weil es Vorbehalte gegen grüne Politik gibt. Etwa unter Chemiearbeitern in Leuna, die sich fragen, ob sie demnächst noch Arbeit haben. Dort ist der Wandel eine historische Erfahrung – und zwar keine gute. „Transformation“ ist hier eher das Synonym für Verlust: von Arbeit, Anker oder Identität. Wer Menschen für Veränderungen gewinnen will, muss solche Lebensrealitäten ernst nehmen. Und wer in dieser Zeit der Polarisierung zwischen Demokraten und Antidemokraten die Unentschlossenen nicht verlieren will, muss sich sowieso um Verständnis bemühen. Klarheit und Offenheit gehören zusammen.
taz: Die Chemiearbeiter werden Sie aber nicht mit der Ankündigung gewonnen haben, wieder ein grüneres Profil zu zeigen?
Banaszak: Die Leute sagen: Wenn Europa einen CO2-Preis erhebt und andere nicht, haben wir einen Wettbewerbsnachteil. Die Sorge nehme ich ernst und sage trotzdem nicht: Dann lassen wir es halt. Stattdessen haben wir darüber gesprochen, wie man dem Problem mit einem anderen Handelsschutz begegnen kann. Vermutlich wählen sie uns auch nach dem Gespräch nicht. Aber wir haben respektvoll und auf Augenhöhe unsere Perspektiven ausgetauscht. Polarisierung vermeiden heißt nicht, keine Position zu haben.
taz: Gesprächsfähigkeit ist das eine. Als Partei wollen Sie aber Wähler*innen zurückgewinnen. Zielen Sie auf die 700.000, die Sie bei der Bundestagswahl an die Linke verloren haben – oder die 460.000, die zur Union gegangen sind?
Banaszak: Die Kategorien sind falsch. Die Union entfernt sich zu immer größeren Teilen von dem, was man „Mitte“ nennen kann. Im Osten ist Kooperation mit der AfD an der Tagesordnung, Julia Klöckner kann ein rechtsextremes Hetzportal nicht von diesem Qualitätsblatt linker Bürgerlichkeit unterscheiden. Die Frage ist doch: Wer formuliert den glaubwürdigen Gegenentwurf zu dieser Enthemmung? Mein Ziel ist, die Grünen zur führenden Kraft der linken Mitte zu machen – und das progressive Spektrum insgesamt wieder wachsen zu lassen.
taz: Manche in Ihrem Parteiflügel sagen, in der Mitte sei für die Grünen nichts mehr zu holen. Dort seien alle mit der Union nach rechts gerückt.
Banaszak: Im Bundestagswahlkampf war das so. Es wäre aber ambitionslos, sich damit abzufinden. Es ist eine Frage der Reihenfolge: Ich muss erst das Fundament festigen – Menschen zurückholen, die uns nahestehen, aber enttäuscht sind – und dann in die Höhe bauen. Es reicht nicht, wenn unsere Politik bei Fridays for Future, Nabu oder Pro Asyl Anklang findet. Aber wenn es nicht mal da klappt, erreichen wir auch keine breiteren Mehrheiten.
Felix Banaszak, Bundesvorsitzender der Grünen
taz: Auch wenn Sie solche Schlagworte nicht mögen: Sie wollen linker werden und in der Mitte punkten?
Banaszak: Sie haben recht, ich mag diese Schlagworte nicht.
taz: Weil andere in der Partei Schnappatmung bekommen, wenn Sie „links“ sagen?
Banaszak: Diese Kategorien reichen einfach nicht zur Betrachtung der Welt. Ein Beispiel: Ich kenne Menschen in Berlin-Moabit, die Grüne oder Linke wählen, aber ihr Kind nicht an der Grundschule um die Ecke anmelden wollen. Dort wird nämlich ein schwuler Lehrer von Schülern gemobbt, die sagen: „Hier ist der Islam Chef.“ Mit so etwas müssen sich progressive Kräfte auseinandersetzen. Es muss möglich sein, angstfrei und offen schwul zu leben, ohne von Rechtsextremen oder Islamisten bedroht zu werden. Ist es nicht mehr links, wenn ich das ausspreche? Oder mache ich damit erst mal die Realität zur Ausgangslage? Man kann in den Kategorien „links“ und „Mitte“ denken oder in den Kategorien „Ehrlichkeit“ und „Feigheit“.
taz: Will man wegen solcher Fälle „irreguläre Migration“ stoppen, wie auch einige Grüne, ist das sehr wohl mittig bis rechts. Die linke Antwort könnte sein: Wir beschäftigen uns mit autoritären und islamistischen Strukturen.
Banaszak: Das wäre auch meine. In Duisburg haben wir ein großartiges Präventionsprogramm, das mit jungen Muslimen an deren Vorstellung von Ehre und Männlichkeit arbeitet. Davon braucht es mehr. Aber damit ich zu rationalen Lösungen in der Migrationsdebatte komme, muss ich auch benennen, dass es Herausforderungen gibt. Und ja, mit Migration und Vielfalt gehen neue Konflikte einher. Einwanderungsgesellschaft heißt Arbeit, aber die lohnt sich.
taz: Sie würden sagen, Ihre Partei ignoriert das?
Banaszak: Einigen fällt es schwer, es auszusprechen. Aus Sorge, dass das den Diskurs nach rechts verschiebt und falsche Konsequenzen gezogen werden. Das passiert leider auch schnell. Aber wenn progressive Kräfte keine überzeugenden Antworten geben, füllen andere das Vakuum. Und so zwingt Deutschland jetzt wieder Frauen und Kinder auf Schleuserboote, weil Union und SPD glauben, den Familiennachzug einschränken zu müssen. Das ist populistischer Unsinn.
taz: In der Ampel haben die Grünen viele Asylrechtsverschärfungen mitgetragen, aber jedes Mal mühsame Debatten geführt. Winfried Kretschmann nennt als zentrales Problem der Bundespartei, dass in der Migrationspolitik eine klare Linie fehle. Da hat er wohl recht?
Banaszak: Ja. Nur denken die meisten, die eine Unklarheit bemängeln, dass genau ihre Position von allen geteilt werden müsse.
taz: Und wie wollen Sie Klarheit schaffen? Durch eine Abstimmung auf dem Parteitag im Herbst?
Banaszak: Nein, wir hatten schon genug Parteitagsbeschlüsse, die das Thema am Ende doch nicht geklärt haben. Die verschiedenen Akteure in der Debatte müssen häufiger und strukturiert miteinander sprechen und eine Linie finden, mit der die große Mehrheit mitgehen kann. Das sehe ich auch als meine Verantwortung. Der nächste Parteitag wird zur Abwechslung mal einen anderen Schwerpunkt haben – sozial gerechten Klimaschutz, die zentrale Aufgabe unserer Zeit.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
taz: Auch da gibt es genug zu diskutieren. Sie fordern, dass die Reichen für den Klimaschutz zahlen. Cem Özdemir warnt: „Weg von Umverteilungsdebatten.“
Banaszak: Der Konsens ist größer, als man denkt. Die Leute wissen, dass Klimaschutz viel kostet. Und wenn man Menschen nicht ehrlich sagt, an wen die Rechnung geht, denken sie, dass sie die Zeche zahlen sollen. Deswegen wäre es an der Zeit, den Menschen ab nächstem Jahr mit einem Klimabonus – oder nennen Sie’s Klimageld – das Geld zurückzuzahlen, das durch den CO2-Preis reinkommt. Das hatte vor der Wahl auch die Union versprochen.
taz: Sie haben auch einen Klimasoli für Reiche vorgeschlagen. Konsens ist das bei den Grünen nicht.
Banaszak: Ich freue mich über jeden Gegenvorschlag, wie man in der Breite der Bevölkerung neue Akzeptanz für ambitionierte ökologische Politik schafft. Bisher habe ich keinen gehört.
taz: Solange es abstrakt bleibt, ist in Umfragen die Mehrheit dafür, die Reichen stärker in die Verantwortung zu nehmen.
Banaszak: Bis zu 80 Prozent sind der Auffassung, dass die Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen zu groß geworden ist. Das Bemühen um mehr Gleichheit und Gerechtigkeit ist ein Anliegen der Mitte. Und wir sind eine Partei der linken Mitte, nicht der linken Hälfte des Golfplatzes.
taz: Sobald es konkret wird, verfangen aber stets die Gegenkampagnen der Lobbygruppen. Diese Erfahrung haben auch die Grünen mehrfach gemacht.
Banaszak: Was ist die größere Gefahr? Dass uns das wieder passiert? Oder dass der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren geht, weil die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit den Menschen auch noch das Restvertrauen in Politik und Staat nimmt? Mit Mutlosigkeit gewinnt man jedenfalls niemanden.
taz: Fehlte es den Grünen bisher am Können oder nicht doch eher am Wollen?
Banaszak: Wir haben uns in den letzten Jahren aus guten Gründen um breite Bündnisse bemüht, auch und gerade mit der Wirtschaft. Aber Teile der Industrie sind bereit und in der Lage, hart gegen jede Veränderung vorzugehen. Natürlich haben Gasversorger kein Interesse daran, dass in Zukunft mit Wärmepumpen statt mit Gas geheizt wird – weil sie Gas verkaufen. Die Kampagne gegen das Gebäudeenergiegesetz war ein Paradebeispiel für erfolgreichen fossilen Lobbyismus. Dagegen müssen wir standhafter werden.
taz: Wie ehrlich waren Sie in diesem Gespräch denn wirklich? Nichts beschönigt, nie ausgewichen?
Banaszak: Nein. Aber wissen Sie, warum in der politischen Kommunikation viele vor Ehrlichkeit zurückschrecken? Man hat im Hinterkopf, wie Aussagen verdreht und aus dem Kontext gerissen werden. Diese Angst lähmt und vergrößert die Entfremdung zwischen politischem Betrieb und Bevölkerung. Ich habe mir vorgenommen, das nicht zu verstärken. Lieber nehme ich auch mal Widerspruch in Kauf.
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