Grünenchef Habeck über Europapolitik: „Boah, was für ein Move“

Seiner Co-Vorsitzenden Annalena Baerbock attestiert Robert Habeck eine „grandiose Furchtlosigkeit“, der Bundesregierung dagegen „Geschichtsvergessenheit“.

Grünenchef Robert Habeck im Porträt

Schielt nicht auf Umfragewerte und innergrüne Befindlichkeiten: Robert Habeck Foto: André Wunstorf

taz: Herr Habeck, die Grünen liegen in Umfragen bei 20 Prozent. Macht Ihnen der Höhenflug manchmal Angst?

Robert Habeck: Nein. Die guten Umfragewerte sind ein Vertrauensvorschuss, der uns gewährt wird. Wir begreifen das als Ansporn.

Wie stabil ist der Trend? Wählt wirklich ein Fünftel der Deutschen dauerhaft die Grünen?

Wir erleben eine neue Zeit der Parteiendemokratie. Die Bindekraft der Volksparteien nimmt ab. Immer für den gleichen Club, egal was die sagen oder tun, das ist vorbei. Menschen ändern ihre Meinung. Sie schauen, was sind die aktuellen Probleme, und wählen dann die Partei, der sie Lösungen zutrauen. Das ist wie Fernsehen 1980 und Streaming 2019. Das ist ein Spiegel unserer Gesellschaft.

Ist das ein Problem oder eine Chance für die Grünen?

Das ist, wenn man die Demokratie als Wettstreit von Parteien und Politikern sieht, erst mal nichts Schlechtes. Parteien haben die Chance, mehr Leute von ihren Ideen zu überzeugen. Annalena Baerbock und ich treten dafür ein, für unsere Positionen auch gesellschaftliche Mehrheiten zu bekommen und dafür Bündnisse zu schmieden.

Sie sind bald seit einem Jahr Parteivorsitzender. Was hat Sie im Amt am meisten überrascht?

Bevor Annalena und ich ins Amt gewählt wurden, gab es eine große Debatte, weil gesagt wurde, das sind doch zwei Realos, das geht doch nicht. Aber die Partei hat entschieden, dass es geht. Die Flügelfragen haben danach null Komma null Bedeutung gehabt. Das ist sehr wohltuend, weil es die Kraft freisetzt, sich auf den Inhalt zu konzentrieren.

Was ist die wichtigste Änderung, die Baerbock und Sie angeschoben haben?

Das Beflügelndste für mich ist, dass es keine Angst gibt. Annalena und ich beantworten Fragen so, wie es uns richtig erscheint. Wir schielen nicht auf Umfragen oder innergrüne Befindlichkeiten – und scheuen uns auch nicht, für Verbote oder Steuern einzutreten, wenn es angebracht ist. Annalena bringt eine grandiose Furchtlosigkeit mit. Wissen Sie noch, wie sie damals ihre Kandidatur bekannt gemacht hat?

Robert Habeck, Jahrgang 1969, aus Lübeck, ist neben Annalena Baerbock Bundesvorsitzender der Grünen.

Sie hatten der taz ein Interview gegeben, in dem Sie Ihre Kandidatur erklären wollten. Am Tag, bevor es erscheinen sollte, ging Baerbock mit der Nachricht an die Agenturen, dass sie Vorsitzende werden wolle. Sie hat Ihnen die Show gestohlen …

…und den Adventssonntag vermasselt, weil das Telefon nicht mehr stillstand. Aber ich dachte: Boah, was für ein Move. Sie ist einfach nach vorne gegangen, ohne sich vorher bei x Leuten in der Partei abzusichern.

Ihre Co-Vorsitzende hat neulich für schnellere Abschiebungen von straffällig gewordenen Asylbewerbern plädiert. Warum ist es mutig, etwas zu fordern, was im Mainstream gut ankommt?

Weil sie sich traut, ein Dilemma offen auszusprechen. Wir fühlen uns Flüchtlingsrechten und Frauenrechten verpflichtet. Und wir wollen das nicht instrumentalisieren und gegeneinander ausspielen lassen. Eine solche komplexe Position in der Flüchtlingspolitik zu vertreten ist nicht leicht. Gerade, weil auch wir auf pauschalisierte Erwartungen treffen, siehe Ihr taz-Kommentar.

Ihnen wird gelegentlich eher Überheblichkeit als Furchtlosigkeit attestiert. Sind Sie überheblich?

Ich hoffe nicht.

Ist bei Vertretern der ökosozialen Wende nicht Überheblichkeit immanent, weil sie es besser zu wissen glauben als andere?

Das ist ein Klischee. Furchtlosigkeit fängt für mich bei kleinen Dingen an, etwa eine Sommerreise unter das Motto „Des Glückes Unterpfand“ zu stellen. Furchtlosigkeit heißt aber auch, dass wir inhaltliche Forderungen scharfstellen. Wenn wir Hartz IV durch eine sanktionsfreie und am Bedarf orientierte Garantiesicherung ersetzen wollen, machen wir uns nicht nur Freunde. Aber in der Sprache, im Umgang mit Wettbewerbern versuchen Annalena und ich uns von den politischen Ritualen, dem Immer-auf-den-Dez-hauen, zu befreien. Wichtig ist uns, kritisch, aber respektvoll und zugewandt zu sprechen.

Früher wurde den Grünen gerne Besserwissertum vorgeworfen.

Niemand hat die Weisheit mit Löffeln gefressen. Und manchmal hat der oder die andere eben einen guten Punkt. Das öffentlich zu sagen, zum Beispiel in einer Talkshow, ist nicht ganz einfach. Der ganze politmediale Betrieb erwartet eigentlich, dass man wie ein Rechthaber auftritt.

Die „Bild“-Zeitung hat Sie mal als „Mix aus George Clooney und Campino“ bezeichnet. Ist es ein Fortschritt, dass männliche Politiker auch nach Ihrem Aussehen bewertet werden?

Mit Humor kann man es als genderpolitischen Fortschritt bezeichnen, dass auch Männer auf ihr Aussehen reduziert werden. Mich nervt’s.

Ist gutes Aussehen ein Vorteil in der Politik?

Ich sehe halt aus, wie ich aussehe. Was nicht zu bestreiten ist, ist, dass Politik nicht vom Wahlomat gemacht wird, sondern von Menschen mit ihren Leidenschaften, Sperrigkeiten, Hoffnungen und Eigenarten. Menschen können etwas verändern. Das ist das große Versprechen der Demokratie. Aber mein Dreitagebart oder Annalenas Leder­jacke sind nicht entscheidend, sondern die Frage, ob man ernsthaft für Themen eintritt.

Manche finden, die Grünen müssten bei Neuwahlen einen Kanzlerkandidaten aufstellen.

Jetzt fängt die taz auch noch damit an.

Wäre das angesichts der guten Umfragewerte nicht nur realistisch?

Unser Jahr lief deshalb gut, weil wir möglichst wenig über uns nachgedacht und alle Energie auf die Herausforderungen der Zeit gerichtet haben. So ist es überraschenderweise gelungen, aus der Opposition eine eigene politische Agenda zu setzen. Wenn ich auf etwas stolz bin, dann, dass wir vielleicht einen Anteil hatten, dass Deutschland nicht mehr nur wie in Genickstarre nach hinten rechts diskutiert.

Im Moment profitieren eher die Populisten von charismatischen Persönlichkeiten. Warum eigentlich?

Es gibt auch charismatische linksliberale Politiker, in deren Wahlkämpfen der Personenfaktor wichtig war. Obama, Trudeau oder auch Macron. Aber es gibt eben auch Trump, Orban oder Salvini. Der Rechtspopulismus ist attraktiv, weil er verspricht, dass alles wieder wie früher wird. Das führt in die Irre. Die Kunst wird sein, die Schlagkraft des liberalen Rechtstaates zu stärken, indem man die Politik wieder auf Ballhöhe mit der Wirklichkeit bringt. Dafür muss sie anspruchsvoller werden und für teils radikale Änderungen sorgen, beim Klimaschutz, bei der Besteuerung des digitalen Kapitalismus…

Sie wollen die ökosoziale Wende in Europa. Überall werden aber gerade rechte Nationalisten stärker. Wer sind Ihre Verbündeten?

Bei der ökologischen Frage ist die beste Verbündete die EU-Kommission. Wenn man sieht, welche Umwelt-, Klima- und Verkehrsgesetzgebung die oft beschimpfte Kommission auf den Weg bringt, muss man sagen: Die schieben es an, wir in Deutschland sind die Verhinderer, weil die Bundesregierung alles und jedes blockiert. Das war bei der Nitrat-Richtlinie in der Landwirtschaft zu beobachten und bei CO2-Grenzwerten für Autos. Der Hambacher Forst wurde durch eine EU-Artenschutz-Richtlinie vor der Rodung gerettet.

Und auf welche EU-Staaten setzen Sie?

Bei der europäischen Integration waren Deutschland und Frankreich immer die Partner, die etwas bewegen konnten. Jetzt hat die Bundesregierung Emmanuel Macron eineinhalb Jahre am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Die Frage ist, wann sich das Zeitfenster für größere Integrationsschritte in der EU schließt. Was passiert, wenn auf Macron Le Pen folgt? Die Geschichtsvergessenheit der Bundesregierung ist atemberaubend.

Wie beurteilen Sie die Umwelt- und Klimaschutzpolitik Emmanuel Macrons?

Seine akuten Probleme sind ja durch eine Benzinbesteuerung ausgelöst worden, die auch ökologisch wirken sollte. Die Besteuerung hätte vor allem einkommensschwache Haushalte getroffen, während Macron auf der andere Seite Reiche entlastet hat. Der Protest hat also tiefere Wurzeln.

Sie betonen, dass Ökologie und das Soziale zusammengedacht werden müssten. Sehen Sie sich durch das Beispiel Frankreich bestätigt?

Der Zusammenhalt einer Gesellschaft ist nicht nur Mittel von Politik. Er ist ihr Ziel, weil eine Demokratie nur ein gewisses Maß an Ungleichheit verträgt. Aber ja, eine ökologische Politik ist auf eine soziale angewiesen Sonst verliert sie die nötigen Mehrheiten. In unserem Europawahlprogramm haben wir diesen Zusammenhang so deutlich wie noch nie hergestellt. Wir fordern zum Beispiel eine CO2-Steuer auf Kohlendioxid, wenn Öl oder Gas für Verkehr, Heizung und Landwirtschaft verbrannt werden. Weil sie aber Geringverdiener stärker belasten würde als Reiche, möchten wir sie als Energiegeld an die Verbraucher und Verbraucherinnen zurückzahlen.

Haben Sie Sympathien für die Gelbwesten?

Nicht für die Gewalt. Und nicht für die teils destruktive, ungerichtete Haltung, die sich gegen „die da oben“ wendet. Aber was dahintersteckt, ist Frust, der sich aus dem Abgehängtsein speist, daraus, dass es in vielen Regionen kaum noch öffentliche Infrastruktur gibt, dass viele gerade mal von ihrer Hände Arbeit leben können. Das verstehe ich. Die soziale Frage wird zu einer demokratischen.

Halten Sie solche Proteste auch in Deutschland für möglich?

Als Sahra Wagenknecht versuchte, die Aufstehen-Bewegung in München aus Solidarität mit den Gelbwesten auf die Straße zu bringen, kamen gerade mal 200 Leute. Es ist ein gutes Zeichen, dass es bei uns noch ein Grundvertrauen ins Funktionieren des Rechtsstaats gibt. Wir können unsere Demokratie in Deutschland renovieren, ohne liberale Prinzipien, die erkämpft wurden, in die Tonne zu treten. Aber auch das ist ein Auftrag.

Welche Probleme müssten in Europa am dringendsten gelöst werden?

Die Ökologie ist das eine. Aber die Frage nach Fairness und Zusammenhalt stellt sich neu und drängend. Es gibt einen wuchernden Niedriglohnsektor gerade im Dienstleistungsbereich, von der Pflege bis zu den Paketdiensten. Auf der anderen Seite betreiben Amazon, Facebook und andere Digitalkonzerne eine exorbitante Gewinnmaximierung, weil sie kaum Steuern zahlen. Das schürt das Gefühl von Ungerechtigkeit.

Was kann man dagegen tun?

Ein Schritt wäre, eine am Umsatz orientierte Digitalsteuer einzuführen. Außerdem müssten Steuerschlupflöcher geschlossen werden. Millionenschwere Investoren zahlen durch legale Share Deals bei Immobilienverkäufen keine Grunderwerbsteuer. Das muss beendet werden. Alle Steuersparmodelle müssen dem Staat angezeigt werden. Wer solche Themen anginge, schlüge den Populisten Argumente aus der Hand.

Wie setzen Sie eine Digitalsteuer um? Die Finanztransaktionssteuer wurde auf EU-Ebene jahrelang zerredet.

Da lobe ich gerne nochmal die EU-Kommission. Sie treibt Anzeigepflicht wie Besteuerung der Digitalkonzerne voran. Und wieder bremst die Bundesregierung. Ich begreife das gerade in Bezug auf Modelle von Steuervermeidung nicht. Dann würde eben mal nicht der Hartz IV-Bezieher drangsaliert, sondern die Steuerkanzlei müsste die Hosen runterlassen. Da brauche ich mir keine Gelbweste überziehen, um zu sagen: Macht das endlich!

Die Union lehnt die meisten Ihrer Ideen ab. Lässt sich mit Schwarz-Grün oder in einem Jamaika-Bündnis eine progressive Europapolitik machen?

Das ist wirklich das Letzte, woran ich denke.

Diese Frage ist entscheidend.

Ist sie nicht. Wir konzentrieren uns auf unsere eigene Agenda – und nicht auf machtarithmetische Fragen. Politik ist extrem dynamisch. Die Frage ist, wer kann die Dynamik erzeugen. So wurden die Wahlkämpfe in Bayern und Hessen geführt und gewonnen. Wer am wenigsten über sich nachdenkt, hat am meisten Kraft.

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