Güterverkehr auf der Bahn: Schlaflos am Bahndamm

Eine Bahntrasse wird erweitert, danach wird alle acht Minuten ein Güterzug durchs Weserbergland rattern. Ein Desaster für die Anwohner.

Güterzüge in einem Bahnhof

Güterverkehrszentrum in Maschen. Foto: ap

COPPENBRÜGGE taz | Um 10.38 Uhr blinkt das Licht am Bahndamm, die Schranken senken sich geräuschlos. Die NordWestBahn aus Hameln zischt vorbei, zwei Waggons mit Triebwagen, nichts rattert. Die Schranken sausen nach oben. Die beiden Patientinnen auf der Terrasse des Krankenhauses schauen nicht auf. 11.08 rauscht der nächste Zug hinterm Rhododendron unterhalb der Terrasse aus der Gegenrichtung vorbei.

Die Strecke Bünde (Westf.)–Hildesheim läuft seit 1990 eingleisig, an einigen Stellen wuchert Kraut auf dem Gleisbett. Wenn der sogenannte Planfall 33 des Bundesverkehrswegeplans eintritt, liegt hier bald ein zweites Gleis für den von der EU beschlossenen Schienengüterverkehrskorridor Nordsee-Ostsee. Die Güterzüge fahren hier dann alle acht Minuten vorbei.

Hinterm Garten von Diethard Seemann hat die Bundesbahn damals Gleise abgebaut. Seemann und seine Nachbarn nutzen den Bahndamm als Komposthaufen und setzen auch mal Büsche aus dem Garten dorthin um. Durch eine Tür im Zaun tritt Seemann vom Damm auf seinen Rasen. „Das zweite Gleis wird ein kleiner Sargnagel“, sagt er und murmelt was von einer „abgehängten Gegend“.

Holländer campen gern im Weserbergland, Deutsche wandern auf dem Höhenzug Ith und radeln entlang der Bahnstrecke. Die Touristen bringen eineinhalb Milliarden Euro in die Region und verschaffen den Gemeinden 39 Millionen Euro Steuern im Jahr. Neben den Kuren in Bad Pyrmont und anderen Luftkurorten ist der Tourismus der wichtigste Wirtschaftszweig.

Doch wohnen möchten hier immer weniger Leute, ebenso wenig wie in Rinteln oder Hameln oder Hessisch-Oldendorf. Um 20 Prozent ist die Bevölkerung zurückgegangen. „Ein strukturschwacher ländlicher Raum“, sagt Coppenbrügges Bürgermeister Hans Ulrich Peschka (CDU), mittelständische Unternehmen schließen und neue entstehen nicht.

Nicht los hier, aber laut ist es trotzdem

Die Klinik werde schließen, fürchtet Bürgermeister Peschka. „400 Arbeitsplätze sind dann futsch.“

Peschka ließ auf dem Ith einen Wanderweg zum Thema Mythen und Märchen anlegen, App-gestützt. „Touristische Zugpferde“ nennt Petra Wegener vom Tourismusverband so etwas. Diese Zugpferde haben sie mit viel Einsatz aufgebaut und sie gegen Windräder, das AKW Grohnde und die Salzeinleitungen in die Werra schwer genug verteidigen müssen, erzählt sie.

Das Weserbergland gehört zu den beliebtesten Mittelgebirgen Deutschlands, die Übernachtungen steigen. Doch wenn alle acht Minuten ein Güterzug durchrasen würde, wäre die Ruhe dahin. Im Krankenhaus von Coppenbrügge, spezialisiert auf Schlaganfallpatienten, wäre es zu laut. Die Klinik werde schließen, fürchtet Peschka. „400 Arbeitsplätze sind dann futsch.“

Viel los ist hier nicht, laut ist es trotzdem. Durchs Weserbergland brettern jetzt schon Tag und Nacht Laster. Sie suchen Abkürzungen, weichen von Autobahnen auf Bundesstraßen aus. Zwei Bahnstrecken laufen hindurch. Die eine von Hameln Richtung Süden ist zweigleisig, die andere hinterm Haus von Diethard Seemann verläuft auf einem Gleis – noch.

Kein Lärmschutz für die Güterbahn

Die Beamten im Bundesverkehrsministerium arbeiten gerade am Bundesverkehrswegeplan, der für die nächsten 20 Jahre den Bau von Straßen, Schienen, Kanälen festlegt. Darunter ist auch der „Planfall 33“, der Seemann und Bürgermeister Peschka in Coppenbrügge besorgt. Gemeint ist damit die Südroute einer bestehenden Güterbahnstrecke zwischen Tallinn und Rotterdam. Innerhalb Deutschlands rollen die Waren über vier Gleise, bis auf die Strecke zwischen Minden und Wunstorf. Dort rattern die Güterzüge über zwei Gleise. „Planfall 33“ sieht vor, dass zwischen Nordstemmen und Löhne die einspurige Strecke als Südroute wieder auf zwei Gleise ausgebaut wird, um die bestehende Strecke zu entlasten.

Grafik: Infotext-Berlin.de

Neben dem Ausbau der Südroute durch das Weserbergland überlegen die Planer auch, die bestehende zweigleisige Nordroute zwischen Wunstorf und Minden auf vier Gleise auszubauen. Das ist „Planfall 12“. Doch der wird für den Bund als Eigner der Schienennetze und für die Bahn AG als Betreiber teuer. Denn die viergleisige Strecke wäre juristisch ein Neubau und müsste lärmgemindert werden. Die Südroute durch Coppenbrügge von „Planfall 33“ ist juristisch keine Änderung, denn die Strecke war früher schon zweigleisig. Also gibt es keinen Lärmschutz. Nicht einmal ein Planfeststellungsverfahren, die Anwohner haben kein Mitspracherecht. Die Südroute ist einfacher zu bauen und vor allem billiger. Und die Millionen für den Lärmschutz beim Neubau will der Bund sparen.

Alle fünf Minuten ein Zug unterm Schlafzimmerfenster

Das Schlafzimmer hat Heidi Rhein schon auf die Straßenseite verlegt, früher schlief sie zum Garten raus. Die Fenster hat sie austauschen lassen, doch auch die doppelt verglasten Schallschutzfenster muss sie schließen. Sie lüftet, wenn sie nicht zu Hause ist. Hinter den Büschen und Obstbäumen des Gartens, alles ziemlich öko und verwachsen, in Hannover West verlaufen die Gleise der europäischen Trasse, die sich ab Wunstorf zu „Planfall 12“ auf der Nordroute verdichten. 260 Züge fahren innerhalb von 24 Stunden an Rheins Haus vorbei. Alle fünf Minuten einer.

„Die ICEs gehen im Stadtlärm unter“, sagt sie. Die Güterzüge rauben ihr den Schlaf und den Tag. Vor ihrem Haus misst ein Gerät den Schall, Hannover West ist einer der lautesten Orte Deutschlands. Die Bahn AG hat auf Druck der Bevölkerung und der Hannoveraner Bundestagsabgeordneten Edelgard Bulmahn (SPD) Lärmschutzwände aufgebaut. „Die bringen eigentlich nicht viel“, sagt Rhein. „Man kauert sich ja nicht direkt dahinter“, sagt sie und geht ein bisschen in die Hocke.

Güter Non-stop von Tallin nach Rotterdam

Wenn die Strecke durch das Weserbergland ausgebaut würde, biegen einige der Güterzüge vor Hannover ab und fahren nicht mehr hinter Rheins Haus vorbei. Leiser würde es deswegen nicht. Auf den Gleisen sollen die Güter der Zukunft fahren, und die bringt mehr Waren, mehr Züge, mehr Wirtschaft. Wie durch Korridore sollen nach den Plänen der Beamten in Brüssel und Berlin die Güterzüge ohne anzuhalten von Tallin nach Rotterdam, von Genua nach Hamburg rollen. Mit Hightech koordiniert, können die Abstände zwischen den Zügen von 800 Metern auf 150 Meter verringert werden.

In Coppenbrügge hätte auch Diethard Seemann bei „Planfall 33“ keine ruhige Minute mehr. Es rauscht, Seemann schaut aufs Handgelenk, 11.38 Uhr, die Regionalbahn zischt vorbei, Seemann schweigt und fährt dann fort. Hier im Pavillon in der hinteren Gartenecke haben er und eine Handvoll Mitstreiter die BI Transit Weserbergland gegründet, mittlerweile sind Landtagsabgeordnete und alle Bürgermeister entlang der Strecke Mitglied.

„Fast unser Vereinsheim“, sagt Seemann im selbst gebauten Gartenhaus und lächelt, so wie er oft lächelt und immer freundlich bleibt, auch wenn ihm nach vier Jahren Engagement die Sache nervt. „Statt einer belasteten Region haben wir dann zwei belastete Regionen“, sagt Seemann, 53, der als leitender Ingenieur in einem Kraftwerk selbst ständig rational entscheidet. 1991 hat er das Haus am Bahndamm in Coppenbrügge gekauft, nachdem die Bahn das Gleis abgebaut hat. „Als normaler Bürger kann man das doch als Signal werten, dass alles entschieden ist.“

30.000 Unterschriften gegen den Bundesverkehrswegeplan

Wenn Planfall 33 nicht so unlogisch wäre, würde er sich nicht einmischen, dann würde er sagen, okay, das ist der Preis für unsere Lebens- und Wirtschaftsweise. Mit der Bürgerinitiative gegen Schienenlärm von Heidi Rhein aus Hannover kämpft er deswegen dafür, dass die zweigleisige und damit sowieso schon laute Nordroute ausgebaut wird. Mit allen technischen Errungenschaften, um den Anwohnern endlich Ruhe zu bringen. Gedämmte Gleisbetten, Kunststoffmatten, Brücken aus Beton statt aus Stahl, gewartete und geschliffene Gleise, Scheibenbremsen auch für Güterzüge. Den ganzen Stand der Technik eben, auf die sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag festgelegt hat. „Den Schienenlärm wollen wir bis 2020 deutschlandweit halbieren“, heißt es dort.

Fast 30.000 Unterschriften gegen den Ausbau der eingleisigen Strecke haben Seemann und seine Mitstreiter von den Bewohnern des Weserberglands gesammelt. Mit vier Kartons voll Unterschriften und einem Transparent sind Seemann, die Bürgermeister von Hameln, Lügde, Coppenbrügge und den anderen Orten im August nach Berlin gefahren. Erneut tragen sie die Proteste den Bundestagsabgeordneten von CDU und SPD ihrer Heimat vor, so wie schon 2011. Die Parlamentarier begrüßen, bedanken, bestärken ihre Wähler unterhalb der Reichstagskuppel und übergeben die Kartons dem Petitionsausschuss.

„Das nächste Mal treffen wir uns, weil es was gebracht hat“, sagt Gabriele Lösekrug-Möller von der SPD und in Berlin Staatssekretärin im Arbeits- und Sozialministerium. Seemann und die Leute aus dem Weserbergland hatten 2011 schon mal den Petitionsausschuss um Hilfe gebeten. Der Bundestag will Ende 2015 oder Anfang 2016 den Bundesverkehrswegeplan verabschieden. Der Ausbau der Güterstrecken wird dann Gesetz. Dagegen ist der Lärm aus dem ländlichen Raum machtlos.

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