Günter Grass über Israel: Der an seiner Schuld würgt

Günter Grass geht mit sich und deutscher Geschichte auf eine Weise unaufrichtig um, die politisch verhängnisvoll ist. Eine Entgegnung auf den apokalyptischen Dichter.

Hand und Pfeife eines Dichters, der alles zu wissen glaubt und es mit letzter Tinte in die Welt hinausposaunt. Bild: dpa

Damals, zur Zeit der Nachrüstung, 1986, Grass publizierte soeben den kleinen, apokalyptischen Roman „Die Rättin“, gab er in Interviews zu Protokoll, dass „wir Schriftsteller uns die Welt noch einmal sehr genau ansehen, bevor sie verschwindet.“ Der Roman „Die Rättin“ spielte in einer Welt nach der atomaren Zerstörung und es ist, als habe dieses Szenario den Autor seither nicht mehr losgelassen.

Zwar ist seitdem nicht die Welt, wohl aber der Reale Sozialismus verschwunden, was jedoch Grass nicht davon abhält, wieder apokalyptischer Stimmung zu sein. Daher schreibt er jetzt ein politisches Gedicht, eine Art Schwanengesang, „gealtert und mit letzter Tinte.“

So veröffentlichten am Mittwoch gleich drei Tageszeitungen, die Süddeutsche Zeitung, die italienische La Repubblica sowie die New York Times ein Gedicht aus seiner Feder unter dem Titel „Was gesagt werden muss“. Es offenbart wie kein anderes die Misere eines Autors, der sich seit seinen literarischen Anfängen mehr oder minder mit deutscher Schuld, seltener mit dem Leiden und Tod der deutschen und europäischen Juden, vor allem aber mit daraus erwachsender politischer Verantwortung befasst hat.

„Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist und in Planspielen geübt wurde, an deren Ende als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind.

Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte, weil in dessen Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird.

Doch warum untersage ich mir, jenes andere Land beim Namen zu nennen, in dem seit Jahren – wenn auch geheimgehalten – ein wachsend nukleares Potential verfügbar aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung zugänglich ist?

Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes, dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, empfinde ich als belastende Lüge und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird; das Verdikt „Antisemitismus“ ist geläufig.

Jetzt aber, weil aus meinem Land, das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird, wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert, ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll, dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will, sage ich, was gesagt werden muß.

Warum aber schwieg ich bislang? Weil ich meinte, meine Herkunft, die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten.

Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden? Weil gesagt werden muß, was schon morgen zu spät sein könnte; auch weil wir – als Deutsche belastet genug – Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre.

Und zugegeben: ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien, den Verursacher der erkennbaren Gefahr zum Verzicht auf Gewalt auffordern und gleichfalls darauf bestehen, daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.

Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben und letztlich auch uns zu helfen.“

In dem aus neun Strophen bestehenden, in reimlosen Versen verfassten Prosagedicht geht es Grass darum, sein eigenes Schweigen zur israelischen Politik und zum sog. „Irankonflikt“ zu beenden und damit zugleich die Deutschen von falsch verstandener Solidarität mit dem Staat Israel zu befreien.

Beschwörung eines Kollektivs

“Warum schweige ich, verschweige zu lange/ was offensichtlich ist und in Planspielen/ geübt wurde, an deren Ende als Überlebende/ wir allenfalls Fußnoten sind.“ Das Gedicht beginnt mit der Beschwörung eines Kollektivs - „wir“ - und es kann sich dabei nicht etwa um die Menschheit, sondern nur um die „Deutschen“ handeln : „Weil gesagt werden muß,/ was schon morgen zu spät sein könnte;/ auch weil wir - als Deutsche belastet genug -/ Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,/ das voraussehbar ist...“. Das voraussehbare Verbrechen aber, das hier angesprochen wird, ist die mehrfach von der Regierung Netanyahu angedrohte Bombardierung der im Bau befindlichen iranischen Atomanlagen.

Mit einer Floskel aus der atomaren Strategie des Kalten Krieges beschwört Grass einen israelischen „Erstschlag“, der „das von einem Maulhelden unterjochte/und zum organisierten Jubel gelenkte/iranische Volk auslöschen könnte,/ weil in dessen Machtbereich der Bau/ einer Atombombe vermutet wird.“ Grass suggeriert hier nicht mehr und nicht weniger als einen von Israel ausgeführten atomaren Holocaust am iranischen Volk.

Welche Erkenntnisse ihn allerdings dazu führen, dass ein mit bunkerbrechenden Bomben geführter Luftangriff die Auslöschung des ganzen iranischen Volkes bewirken könnte, kann er natürlich nicht angeben – bemerkenswert ist allenfalls die Vertauschung von Ursache und möglicher Wirkung. Wenn nämlich überhaupt eine Partei in diesem Konflikt die Auslöschung der anderen androht, dann war und ist es doch die klerikalfaschistische Diktatur der Mullahs.

Um das zu erkennen, muss man sich noch nicht einmal auf den „Maulhelden“ Ahmadinedjad beziehen: Es war der jetzige Revolutionsführer Khamenei, der mächtigste Mann im Staate, der 2001, den Staat Israel erstmals als „Krebsgeschwür“ bezeichnet hat, das aus der Region zu entfernen sei; 2009 wiederholte er dies. Khamenei steht damit in der Tradition des Gründers der Islamischen Republik, Ajatollah Khomeini, der schon 1979 die Auflösung des israelischen Staates forderte.

All dies findet in dem einen epischen, weltgeschichtlichen Anspruch erhebenden Gedicht überhaupt keinen Ausdruck, wodurch es zum schlichten Agitpropspruch umfunktioniert wird.

Hauptgefahr für den Weltfrieden

Ebenso verdruckst wie zielsicher steuert Grass dann auf jene unter Deutschen populäre und keineswegs tabuierte Meinung zu, wonach der Staat Israel die Hauptgefahr für den Weltfrieden sei: “Warum“ so fragt er sich verquält „sage ich jetzt erst/ gealtert und mit letzter Tinte:/ Die Atommacht Israel gefährdet/ den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“

Der Dichter will also seine bisher geübte Rolle ändern, jetzt nicht mehr als ungeliebter Mahner auftreten, als praeceptor germaniae, sondern durch das Brechen eines lastenden Schweigens mit gutem Beispiel vorangehen: „zudem ist zu hoffen,/ es mögen sich viele vom Schweigen befreien,/den Verursacher der erkennbaren Gefahr/ zum Verzicht auf Gewalt auffordern“.

Dass das angesprochene Publikum auch dazu bewegt werden könnte, die iranische Führung zum Verzicht auf ihre Vernichtungsdrohungen aufzufordern, kommt dem Dichter nicht in den Sinn.

Fragt man darüber hinaus nach den Gründen, die ihm jetzt die Möglichkeit bieten, das ach so belastende Schweigen, das zu übertönen einem den Ruch des Antisemitismus einbringen könnte, zu brechen, so ist es nicht weniger als die Hoffnung, die phantasierte Auslöschung des iranischen Volkes zu verhindern: „Weil gesagt werden muß,/was schon morgen zu spät sein könnte;/ auch weil wir – als Deutsche belastet genug – Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,/ das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld/ durch keine der üblichen Ausreden/ zu tilgen wäre.“

Mögliche Mitschuld

Grass beschwört hier – nach der Schuld an der Ermordung der europäischen Juden – eine „zweite Schuld“ – eine mögliche Mitschuld, diesmal an der Auslöschung des iranischen Volkes. Das Verhindern der künftig möglichen Schuld erlöst vom Druck der wirklichen Schuld.

Dass das alles mit der politisch-strategischen Wirklichkeit nichts zu tun hat, dass die iranischen Atomanlagen allenfalls mit noch in US-Besitz befindlichen bunkerbrechenden Spezialbomben zerstört werden können, aber nicht von auf U-Booten stationierten atomaren Sprengköpfen, die der Abschreckung dienen, entgeht dem welthistorisch apokalyptischen, an seiner Schuld (er hatte sich, allzu spät eingestanden, zur Waffen SS gemeldet,) würgenden Poeten.

Ist Grass also, indem er historische Tatsachen, hier die iranischen Vernichtungsdrohungen unterschlägt und den Staat Israel als Gefahr für den Weltfrieden, also als den „Juden unter den Staaten“ (Leon Poliakov) denunziert, ein Antisemit? Grass selbst würde das empört oder altersmelancholisch von sich weisen, bekennt er doch „dem Land Israel, dem ich verbunden bin/ und bleiben will.../“ etwas zumuten zu wollen.

Es spielt aber auch keine Rolle. Die Begriffe „Antisemitismus“ und „Antisemit“ sind zwar wissenschaftlich geklärt, werden aber inzwischen so inflatorisch verwendet oder bestritten, dass sie ihre Trennschärfe verloren haben. Zudem: Es gab Antisemiten, etwa katholische polnische Bauern, die verfolgte Juden vor der SS oder Wehrmacht versteckt haben, während es in der NS Zeit umgekehrt in dieser Hinsicht durchaus aufgeklärte Technokraten gab, die den Holocaust in seiner Perfektion erst ermöglichten.

Man könnte also sagen: Der Grass von 2012 ist schlimmer als ein Antisemit, da er mit sich, seiner und der deutschen Geschichte in einer Weise unaufrichtig umgeht, die nicht nur traurig stimmt, sondern auch politisch verhängnisvoll ist.

Eines der schönsten Bücher von Grass handelt von Dichtern zur Zeit des 30-jährigen Krieges, „Das Treffen in Telgte“, in dem der Dichter Moscherosch eine wichtige Nebenrolle spielt. Dass Moscherosch ein glühender Judenhasser war, ist im „Treffen in Telgte“ nicht zu lesen. In Moscheroschs Schrift „Philander infernalis“ lesen wir: dass die Juden „...in Gerichten alles leugnen und falsche Eide darüber schwören...“ Wie heißt es in Günter Grass Gedicht? Israel, ein Land „in dem seit Jahren – wenn auch geheim gehalten–/ ein wachsend nukleares Potential verfügbar.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.