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Hamburg im NovemberWarum sind wir so einsam?

Bei einem Spaziergang durchs graue Hamburg denkt unser Kolumnist über Vereinzelung nach. Und an seinen Besuch in Syrien, den ersten nach zehn Jahren.

Hier lässt es sich gut vereinzeln: Hamburg im November, in diesem Fall zum Glück zu zweit Foto: Christian Charisius/dpa

A n einem herbstlichen Abend in der vergangenen Woche spazierten meine Frau und ich am Jungfernstieg entlang. Es war schon grau und kalt, wie Hamburg eben oft im November ist. Wir sahen einen jungen Mann, der Lieder sang, und es bildete sich eine Menschentraube um ihn. Seine Stimme war nicht perfekt, aber trotzdem blieben immer mehr Menschen stehen, hörten ihm zu.

Meine Frau sagte dann, dass diese Szene sie erinnere an das Zitat einer Bekannten: „Menschen sind hungrig nach menschlicher Verbindung.“

Das war vielleicht schon immer so, aber gilt besonders heute, in einer Zeit, in der uns Social Media unendlich viel Zeit stiehlt. Wir verbringen Stunden allein mit unseren Handys und haben immer weniger echten Kontakt. Dabei sind echte, spontane, ungefilterte Kontakte doch entscheidend für uns Menschen?

Solche Verbindungen sind besonders wichtig für unser psychisches Wohlbefinden. Viele junge Leute – auch Studierende – leben in großen Städten und lernen immer weniger Menschen kennen. Sie brauchen Nähe, Gespräche, Begegnungen. Deshalb nutzen viele Apps, nicht nur um romantische Partner zu finden, sondern auch um Freundschaften zu schließen. Eine jüngere Kollegin von mir erzählte, dass sie vor ein paar Monaten nach Hamburg gezogen ist. Sie hatte hier kaum Kontakte und nutzte Apps, um neue Menschen kennenzulernen und Freundinnen zu finden. Ist das traurig? Dass wir immer weniger Verbindungen dem Zufall überlassen? Oder ist es eine innovative Lösung für das gesellschaftliche Problem der Einsamkeit?

Ich vermisse Wärme und Zusammenhalt

Aus einer küchen-philosophischen Perspektive – ich bin schließlich kein Philosoph – könnte man sagen: Handy und Social Media sind die Produkte eines übertriebenen Individualismus. Tools und Systeme, die uns Freiheit versprechen, aber immer mehr Einsamkeit erzeugen. Sie sind nicht die Ursache für alle Probleme, aber sie verstärken viele davon.

Ich erinnere mich zurzeit oft an meinen Besuch bei meiner syrischen Familie im letzten Februar, das erste Mal nach zehn Jahren. Ich war nur fünf Tage dort – aber kaum war ich angekommen, hatte ich das Gefühl, die ganze Straße kam, um mich zu umarmen. Nachbarinnen, Freunde, Verwandte: jeden Tag kamen Menschen vorbei, begrüßten mich, waren einfach da. Diese Wärme, dieser Zusammenhalt – das vermisse ich hier manchmal sehr. Und viele andere auch, denke ich.

Natürlich hat jede Lebensweise ihre Vor- und Nachteile. Hier in Deutschland habe ich viel mehr Privatsphäre, mehr Ruhe, mehr Entscheidungsfreiheit.

Wie können wir als Gesellschaft wieder Nähe herstellen? Wie stärken wir das Nachbarschaftsgefühl? Wie schaffen wir Gemeinschaften, in denen Menschen ohne Angst miteinander sprechen, einander vertrauen und füreinander da sind?

Das sind Fragen, die mich umtreiben. Eine Lösung, an die ich öfters denke, ist wieder mehr physische Räume zu schaffen, in denen man sich begegnet. Orte, an denen Menschen sich sicher fühlen, miteinander reden, spielen, lachen, einander unterstützen können. Ein bisschen wie damals, zu der Hochzeit der Willkommenskultur.

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4 Kommentare

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  • In prä-Social-Media-Zeiten, als noch nicht jeder auf seinen kleinen Bildschirm blickte, kam es in den öffentlichen Verkehrsmittel hin- und wieder zu Blickkontakten - gerade mit denen, die immer den gleichen Zug nutzen. Nach einiger Zeit wurde dann vielleicht ein Kopfnicken ausgetauscht oder es kam sogar zu kurzen Gesprächen. Das ist lang, lang her - heutzutage werde ich keines Blickes gewürdigt - alle schauen angespannt auf ihre kleinen Geräte, so als wären sie "abhängig".



    Eine ziemliche Verarmung! Eigentlich schade!

    • @Il_Leopardo:

      "So als WÄREN sie abhängig" - meiner Meinung nach SIND sie abhängig.

      In öffentlichen Verkehrsmitteln bekomme ich fast immer ein Gespräch, wenn ich es möchte. Manche Menschen scheinen darauf zu warten angesprochen zu werden, trauen sich selbst aber nicht.



      Den Daumentrainer benutze ich als Telefon und als Infoquelle und zu sonst gar nichts.

      Übrigens ist alleine sein etwas anderes als einsam sein. Man muss es halt ertragen, ich kann es sogar genießen. Man darf sich nur nicht einreden lassen, man müsste immer irgendwas mitteilen oder mitgeteilt bekommen.

      • @Erfahrungssammler:

        Ich stimme mit Ihnen in allem überein. An den Haltestellen ergeben sich oft auch Gespräche - meist mit Damen in meinem Alter. Männer gucken immer weg. Eigentlich habe ich mein Handy nur dabei, um mal eine mögliche Verspätung anzukündigen - und im Urlaub, um die Nachrichten zu hören. Alleine leben, heißt ja nicht, einsam zu sein. An drei Vormittagen gehe ich noch arbeiten, ansonsten habe ich meine erweiterte Familie und zwei Freunde. Ansonsten gibt es auch viele andere Möglichkeiten, Menschen zu treffen - z.B. in Wandergruppen oder Nordic-Walking-Gruppen usw.

  • Doch, das ist sehr philosophisch. Und sehr wahr.

    Aber: die Flucht ins Digitale ist auch Ausdruck einer love/hate-Beziehung zu realen menschlichen Kontakten. Eigentlich will man ja, aber dann hat man Angst, dass man selbst den anderen nicht "gut genug" ist, oder dass die Anderen einem selbst nicht "gut genug" sind.

    Um von den Menschen in Syrien umarmt zu werden, mussten Sie ja auch erst mal nach Syrien fahren, ins Ungewisse, in ein in Stücke geschlagenes Land, in eine geschundene Gesellschaft. Sie hatten den MUT, es zu tun, und bekamen eine angemessene Belohnung in Form von Zwischenmenschlichkeit.

    Aber der Mut - den muss man erst mal haben. Viele Deutsche haben ihn nicht mehr, aus gleichzeitiger Selbstüber- und -unterschätzung. "On the Internet, nobody can tell you're a dog" hat als Korrelat eben auch "on the Internet, everybody is always beautiful, smart, and popular". Menschen im Echtleben haben hingegen auch mal Migräne und Mundgeruch, oder seltsame Meinungen die sie ohne Vorwarnung in die Welt kloppen. Sich in eine Scheinrealität zu flüchten, ist da der naheliegende "leichte Ausweg".

    "Schneller, leichter, verführerischer" sei die Dunkle Seite der Macht, sagte Meister Yoda.