Hasspostings im Internet: Der digitale Mülltrenner

Eine kleine Meldestelle kümmert sich darum, Hass aus dem Internet zu entfernen. Es ist deutschlandweit die einzige und sie hat gut zu tun.

Zeichnung: Mann sitzt vor Computerbildschirm

Illustration: Beatrice Davies

SERSHEIM taz | Wenn Stephan Ruhmannseder morgens zur Arbeit kommt, dann ist das Postfach meistens voller Tickets. Ein „Ticket“, das ist ein Arbeitsauftrag: Jemand hat seinen Arbeitgeber kontaktiert und Stephan Ruhmannseder muss sich nun mit der Anfrage auseinandersetzen. Die Fragen, mit denen er es zu tun hat, ähneln sich meistens: Ist das eigentlich legal, wenn jemand auf Twitter schreibt: „Mit den Flüchtlingen werden auch die Müllverbrennungsanlagen überfordert“? Kann man jemanden strafrechtlich belangen, der in einem sozialen Netzwerk ein Bild teilt, auf dem Pin-up-Girls Schachteln mit Hakenkreuz-Aufdruck in die Kamera halten? Und ein antimuslimisches Posting, in dem Deutschland höhnisch als „Allahs Paradies“ bezeichnet wird – gibt es eine Möglichkeit, das aus dem Netz zu bekommen?

Stephan Ruhmannseder wird die Aufträge im Tagesverlauf abarbeiten. Normalerweise schreibt er zunächst kurze freundliche Absagen zu allen Tickets, bei denen er keine Chance auf Erfolg sieht. Später am Tag setzt er sich mit den restlichen Fällen auseinander – und wird möglicherweise am Nachmittag eine oder mehrere Anzeigen bei der Polizei stellen. So sieht sein Tag aus: Hass sichten, Hass einordnen, dann dagegen vorgehen. Oder auch nicht; je nachdem, was möglich ist.

Stephan Ruhmannseder, ein eher kleiner Mann mit dunklen Stoppeln auf dem Kopf, arbeitet stehend an einem Pult; die helle Sonne des Vormittags fällt ihm in den Rücken und direkt auf seine zwei Monitore. Er sagt: „Ich bin keine Ermittlungsbehörde. Meine Arbeit könnte theoretisch jeder an seinem Schreibtisch verrichten. Jedenfalls, sofern er bereit ist, sich in die Thematik einzuarbeiten.“

Dem ist aber nicht so: Stephan Ruhmannseder arbeitet für die Meldestelle „respect!“, einer Anlaufstelle, der jeder Hass im Internet melden kann. Wer in Deutschland etwas Vergleichbares sucht, der wird nichts finden. Hate Speech und der Aufruf zu Straftaten, damit müssen sich hierzulande nur die Betreiber sozialer Medien und die Polizei auseinandersetzen. Aber beide erklären ihr Handeln nicht: Über die Facebook-Löschkolonnen ist kaum etwas bekannt, auch die Landeskriminal­ämter haben keine dezidierten Ansprechpartner für die Arbeit mit dem Hass. Dabei wäre Transparenz so wichtig: Was ist legal und was illegal? Was wird warum gelöscht und was strafrechtlich weiterverfolgt? Und nicht zuletzt: Was macht das eigentlich mit jemandem, wenn er all dem jeden Tag ausgesetzt ist? Es gibt dazu anonyme Bekenntnisse von Menschen, die das eine Weile im Auftrag von Facebook gemacht haben. Sie lesen sich nicht gut. Viele Ansätze existieren für die Arbeit mit dem Hass, vielleicht handelt es sich sogar um einen Berufszweig mit Zukunft. Nur erfährt man nichts darüber. Stephan Ruhmannseder aber hat seine Tür geöffnet.

Einen Unterschied zum engagierten Privatmann gibt es bei ihm. Stephan Ruhmannseder stehen immerhin so viele Ressourcen zur Verfügung, dass er für seine Arbeit bezahlt werden kann. Insgesamt arbeiten sie in Sersheim bei Stuttgart sogar zu viert, wobei er die einzige Vollzeitstelle hat. Heute ist außer ihm niemand da. Wer immer auf Facebook, Twitter oder sonst wo im Internet einen Inhalt findet, den er für bedenklich hält, kann sich damit an die Meldestelle wenden – unter der etwas umständlichen Internetadresse www.demokratiezentrum-bw.de/meldestelle-respect. Das System hat für den Finder den Vorteil, dass er eine Antwort und eine Einschätzung zu seinem Fund erhält – und dass er eine eventuelle Anzeige nicht selbst stellen muss. Was gleich viel wertvoller klingt, wenn man bedenkt, dass ein Mensch, gegen den eine Anzeige vorliegt, die Anschrift des Anzeigenden einsehen darf.

Arbeitsgrundlage ist das Strafgesetzbuch

Stephan Ruhmannseder ist eigentlich Medienwissenschaftler, aber sein wichtigstes Hilfsmittel ist ein zerlesenes Strafgesetzbuch. „Mit etwas Übung kann man leicht damit umgehen. Die Gesetzestexte sind im Bezug auf viele Fälle relativ eindeutig“, sagt er. Meistens muss er sich auf wenige Seiten beschränken; diejenigen von Paragraf 86a etwa, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen – und Paragraf 130, Volksverhetzung. An diesen Stellen sind ganze Absätze gelb markiert, die Seite von Paragraf 130 hat sich ob der häufigen Lektüre sogar vom Bucheinband gelöst.

Stephan Rumannseder

„Es macht etwas mit einem, wenn man diesen Dingen ständig ausgesetzt ist“

Paragraf 86a ist derjenige, auf dessen Basis Ruhmannseder eine Anzeige gegen jenen Menschen formuliert hat, der das Foto mit den Hakenkreuz-Pin-ups gebracht hatte – das Vergehen ist relativ eindeutig, denn das Zeigen von Hakenkreuzen in der Öffentlichkeit ist nun einmal verboten. Schwieriger ist der Fall bei jenem Kommentator, der bei Flüchtlingen „Müllverbrennungsanlagen überfordert“ gesehen hatte: Es ist leicht, hier eine Assoziation zu den Verbrennungsöfen der Nazis herzustellen, aber solange die Drohung vage bleibt, weder Opfer noch Tatzeitpunkt konkret benannt werden, kann Ruhmannseder nichts tun. „Allerdings werden hier auch Menschen mit Müll verglichen. Da kann man sagen: ‚Okay, das ist Entmenschlichung.‘ Und das fällt dann wieder unter 130. Also haben wir dann doch Anzeige gestellt.“ Nichts unternommen hat die Meldestelle hingegen gegen das Posting, in welchem Deutschland als „Allahs Paradies“ bezeichnet wird – das sei vielleicht nicht lustig, aber durch die Meinungsfreiheit gedeckt.

Und das ist oft so: Wenn jemand weiß, was er sagen darf und was er sich lieber verkneift, dann geht ziemlich viel als Meinungsfreiheit durch. Und meistens liegt der Unterschied schlicht in der Tonalität: Strafrechtlich ist es zum Beispiel ein Unterschied, ob jemand andere Menschen mit dem Tod bedroht oder nur schreibt, dass man da mal was machen müsste. Irgendwer. Irgendwie. Ist doch nur so dahingesagt. „Besser wäre es noch, wenn man die Schlepperbanden mit ihren NGO-Schiffen mit der gesamten besatzung verseken tut im Mittelmeer“ ist so ein Satz, den man – inklusive aller Rechtschreibfehler – folgenlos unter einen Artikel zur Seenotrettung von Geflüchteten schreiben kann. Es ist der Kommentar, von dem Stephan Ruhmannseder sagt, dass er ihn in seiner Zeit bei der Meldestelle vielleicht am meisten getroffen hat: „Wenn man merkt, dass Menschen so bar jeder Empathie sind, dann fragt man sich schon: ‚Was läuft hier eigentlich schief?‘“ Er hat es schnell begriffen: Wenn ihn etwas persönlich betroffen macht, heißt das noch lange nicht, dass er etwas dagegen unternehmen kann.

Rund 150 Mal haben sich Stephan Ruhmannseder und seine Kollegen bislang für eine Anzeige entschieden. Wie viele dieser Menschen belangt worden sind, wissen sie nicht – sie haben nur Anrecht darauf, von der Staatsanwaltschaft über eine eventuelle Einstellung des Verfahrens informiert zu werden. Was bislang selten vorkam. Vier Menschen, nur eine volle Stelle – man darf hier keine große Maschinerie erwarten; keine Bataillone von Anwälten und keine optimierten Prozesse. Nur: Eine solche Maschinerie gibt es nirgends. So kommt es, dass die winzig kleine Meldestelle eben auch die größte in Deutschland ist.

Man bekommt öffentliche Gelder. Das Organigramm der Meldestelle sieht sehr komplex aus und ein bisschen nach deutscher Förderlandschaft. Im Wesentlichen läuft es darauf hinaus, dass man den miteinander verwobenen Organisationen der „Jugendstiftung Baden-Württemberg“ sowie des „Demokratiezentrums Baden-Württemberg“ unterstellt ist. Diese bekommen wiederum Mittel vom Land sowie vom Bundesfamilienministerium. Kann man eigentlich von einer halbstaatlichen Organisation sprechen? Stephan Ruhmannseder zuckt mit den Schultern.

Sie müssen niemandem Bericht erstatten

Einen politischen Beschluss zur Gründung der Meldestelle gab es nicht – weder parlamentarisch noch ministerial noch nachrangig. Darauf legen sie hier Wert: Sie haben sich das selbst überlegt. Weil sie etwas machen wollten. Sie müssen niemandem Bericht erstatten.

Stephan Ruhmannseder ist bewusst, dass seine Arbeit dennoch von der Allgemeinheit finanziert wird. Deswegen sucht er das Gespräch und ist offen für Anfragen, was das denn auf sich hat mit dieser Meldestelle „respect!“. Manche Mails, die ihn erreichen, beginnen mit der Anrede: „Hallo ihr Fotzen und Arschlöcher“.

Es hat Beleidigungen gegeben. Nichts, was Stephan Ruhmannseder, der das Strafgesetzbuch inzwischen so gut kennt, als konkrete Drohung auffassen würde. Dennoch: Im nahen Pforzheim gibt es eine aktive rechte Szene. Das ist der Grund, weswegen es neben diesem Text kein Foto von Stephan Ruhmannseder gibt. Man findet auch keines im Internet; er kontrolliert das regelmäßig. Andererseits legt er Wert darauf, mit seinem richtigen Namen genannt zu werden und nicht ano­nymisiert: „Das ist der Spagat zwischen Transparenz und Sicherheit, den wir ständig vollbringen müssen.“

Stephan Ruhmannseder

„Es gibt auch Erfolgserlebnisse. Dann nämlich, wenn ich merke, ich kann etwas unternehmen“

Stephan Ruhmannseder ist nicht jeden Tag in seinem Büro; er ist viel unterwegs, hält Vorträge, besucht Schulen. Darüber ist er ziemlich froh. Es ist eigentlich nicht so, dass er ständig schockiert wäre von dem, was er sieht – sondern eher davon, dass er es oft nicht mehr ist. Hier ein Bild, in dem jemand „Refugees Welcome“ an ein KZ-Eingangstor montiert hat, dort ein Eintrag, in dem eine ganze Menschengruppe als „diese Viecher“ bezeichnet wird – all das ist normaler Teil seiner Arbeit. „Es macht etwas mit einem, wenn man diesen Dingen ständig ausgesetzt ist“, sagt er. Deswegen achten sie bei der Meldestelle darauf, dass sie sich ständig austauschen über das, was sie zu sehen kriegen. „Außerdem gibt es auch Erfolgserlebnisse. Dann nämlich, wenn ich merke, ich kann etwas unternehmen.“

Rege Zusammenarbeit mit dem LKA

Das ist manchmal gar nicht so einfach: Eine Anzeige kann man zwar überall stellen – für die Ermittlungen zuständig ist aber immer die Behörde des Bundeslandes, in dem der Angezeigte lebt. Was aber, wenn jemand droht, beleidigt, verleumdet und dabei einfach seinen Wohnort nicht nennt? Dann ist man mitunter darauf angewiesen, dass die Polizei hilft, das herauszufinden – und das Anliegen dann an die korrekte Dienststelle weiterleitet. Deshalb treffen sich die Mitarbeiter der Meldestelle zweimal im Jahr mit Beamten des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg. „Unsere Mitarbeiter befinden sich mit den bei der Meldestelle ‚respect!‘ tätigen Ansprechpartnern in regem und ständigem Austausch“, nennt das der zuständige Inspektionsleiter Andreas Taube. Das begrüße man.

Aber darf man das eigentlich? Einfach mal eine Organisation gründen, die verdächtige Internet-Einträge sammelt, weiterleitet – und sich dafür regelmäßig mit der Polizei trifft? Und sich diese Arbeit mit öffentlichen Geldern finanzieren lässt? Die Antwort aus rechtlicher Perspektive ist ziemlich simpel, sie lautet: Warum nicht? Aber bei der Meldestelle finden sie außerdem: Man darf nicht einfach nur, sondern man muss. „Es wäre einfach wünschenswert, wenn wir nicht die einzige solche Clearingstelle wären, sondern es viele davon gäbe. Und das kann dann gerne von ganz anderen Leuten ausgehen“, sagt Stephan Ruhmannseder.

Und tatsächlich: Wer soll das, was manche Menschen ins Internet absondern, eigentlich wegräumen? Was erwarten wir? Reicht es, sich auf die Polizei zu verlassen? Oder darauf, dass Unternehmen wie Facebook und Twitter das machen? Die Meldestelle steht für einen ganz anderen Ansatz: Wir wollen, dass das wegkommt; wir wollen, dass die Urheber belangt werden – also kümmern wir uns darum und organisieren uns selbst.

Die Arbeit ist ein bisschen weniger geworden in den vergangenen Wochen – und das liegt am Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Stephan Ruhmannseder und seine Kollegen haben festgestellt, dass fragliche Beiträge oft schneller verschwinden. Flächendeckend sei das aber keineswegs der Fall.

Nicht Löschen ist das Ziel, sondern die Strafverfolgung

Ohnehin ist das reine Löschen eines Beitrags nicht das primäre Ziel der Meldestelle, sondern die Strafverfolgung. Wenn etwas zu schnell gelöscht ist, dann kann das sogar kontraproduktiv sein: „Bevor wir etwas anzeigen, erstellen wir immer einen eigenen Screenshot. Wenn das nicht mehr möglich ist, gibt es auch keine Anzeige.“

Das ist eine Frage, die im Umgang mit Hate Speech erstaunlich offen ist: Ist es eigentlich besser, schnell etwas aus dem Netz zu entfernen – oder ist es wichtiger, einen Urheber zur Rechenschaft zu ziehen? Auch wenn dann etwas Verletzendes, Gewaltverherrlichendes oder Menschenverachtendes etwas länger online steht? Das eine kann das andere ausschließen; und möglicherweise schafft das NetzDG hier Fakten, ohne dass diese diskutiert worden wären. Aber noch ist das für Stephan Ruhmannseder kein Thema. Er sagt, er habe weitaus mehr zu tun, als ihm lieb sei.

Und es reicht ja bei Weitem nicht immer. Manche Nutzer sozialer Medien sind einfach zu geschickt in ihrem Hass. Wenige Wochen ist es erst her, dass Stephan Ruhmannseder dutzendfach einen Eintrag zugeschickt bekam, in dem jemand Menschen zu einer schlichten Masse machte, von „importierten, marodierenden, grapschenden, prügelnden, Messer stechenden Migrantenmobs“ sprach. Twitter hatte den Eintrag gelöscht, Facebook nicht. Aber Stephan Ruhmannseder unternahm nichts, abgesehen davon, dass er freundliche Absagen schrieb. Viele Absagen. Die Chance, Alice Weidel einen Gesetzesverstoß nachzuweisen, erschien ihm zu gering.

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