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Hexen, Serienmörder, KriegsherrenDer Spieleinsatz sind Menschenleben

Die Ausstellung „Scherben der Realität. Berlin – Dreistadt“ in der Kommunalen Galerie Berlin zeigt Zusammenhänge individuellen Leides und struktureller Macht.

Dorota Nieznalska, Pamięć zapośred-niczona (fragment) / Mediated Memory (fragment), 2023, Mixed Media Foto: Dorota Nieznalska

Die Welt ist zerrissen, nicht nur heute. Darauf macht die Ausstellung „Scherben der Realität. Berlin – Dreistadt“ in der Kommunalen Galerie Berlin in Wilmersdorf deutlich. Künstlerinnen aus Polen, der Ukraine, Mexiko und Deutschland gehen darin gebrochenen Biografien und Großkonflikten nach, und demonstrieren auf sehr unterschiedliche Weise, wie eng das je individuelle Leiden mit den politischen Rahmensetzungen verbunden ist.

Dorota Nieznalska etwa spürt in ihrem Videoessay „Schwarze Pädagogik“ den Prägungen nach, die der pädophile Serienmörder Jürgen Bartsch im Salesianer-Internat Aulhausen erfahren haben mag. Militärische Strenge verbunden mit Frömmigkeit und sexuellen Übergriffen durch mindestens einen der Erzieher hatten nach Ansicht der zum Prozess hinzugezogenen Psychiater einen starken Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung Bartschs.

Nieznalska kombiniert düster wirkende Schwarz-weiß-Bilder des Klosters mit Auszügen aus den Gesprächen des forensischen Psychiaters Wilfried Rasch mit Bartsch. Die Thematik Kirche, Unterdrückung von Sexualität und Missbrauch beschäftigt die in Danzig geborene Künstlerin schon länger. 2002 wurde sie schlagartig bekannt mit ihrer Installation „Passion“.

Die verband das Bild eines Penis auf einem gold leuchtenden Kreuz mit dem Video eines sich im Kraftraum verausgabenden jungen Mannes. Die Arbeit trug ihr einen Prozessmarathon wegen vermeinlicher Blasphemie ein.

Die Künstlerin Hannah Shumska kommt aus der Ukraine

Die aus der Ukraine kommende, jetzt aber in Polen lebende Hanna Shumska verknüpft in der Breitband-Animation „Ein Traum mit offenen Augen“ Krieg mit privaten Szenen. Zwei Männer ohne Kopf sieht man an einem Tisch würfeln. Nach jeder Aktion landen Silhouetten getöteter Soldaten auf einem Haufen. Ihr Einsatz sind Menschenleben.

Auf einem Bildschirm, vor dem eine junge Frau sitzt, sind derweil Füße marschierender Soldaten zu sehen, während sich am Horizont ein Feuerball erhebt. Es blühen allerdings auch Blumen, und eine weitere Frauengestalt mit einem Flügel, der an Engel wie an Adler erinnert, stapft mit einem Koffer, aus dem Erinnerungsbilder purzeln, durch die Szenerie.

Höhepunkt der Gruppenausstellung ist Anka Lesniaks Auseinandersetzung der österreichisch-ungarischen Bildhauerin Teresa Ries. Die wurde – ähnlich in diesem Jahrhundert Nieznalska – bereits 1896 durch einen Skandel berühmt. Ries präsentierte damals eine aus feinstem Carrara-Marmor gefertigte nackte Frauengestalt als „Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht“. Ries, die jüdischer Herkunft war, floh 1942 aus Wien.

Scherben der Realtität. Berlin – Dreistadt

Kommunale Galerie Berlin, Hohenzollerndamm 176, 10713 Berlin, bis 9. November

Ihre Werke überstanden den Krieg, wurden aber teils massiv beschädigt. Der „Hexe“ etwa fehlten Locken, Zehen, ein Teil der Nase und auch eine Hand. Die hielt ursprünglich eine Schere, die oft als Kastrationswerkzeug gedeutet wurde. Aus den Zerstückelungen der Figur selbst, aber auch aus der Kastrationsthematik entwickelt Lesniak eine vielschichtige Rekonstruktion.

Im Videoteil arbeitet sie die Biografie von Ries und die Geschichte der Hexenskulptur auf. Eine Installation aus hängenden Scheren zerschneidet jetzt die Luft. Und auch ein Schminkköfferchen mit eher martialischen Werkzeugen gibt sie der Hexenfigur bei.

Irritierend ist bei der von Marta Smolinska und Norbert Wiesneth kuratierten Ausstellung allerdings der Titelteil „Berlin – Dreistadt“. Zwar sind die insgesamt zehn Künstlerinnen teilweise mit Berlin und teilweise mit den drei zusammenhängenden Städten Gdansk, Gdynia und Sopot verbunden. Ihre hier präsentierten Arbeiten weisen aber keine direkt an diese Städte gebundene Bezüge auf. Es wirkt eher wie eine Form von Stadtmarketing und lenkt von der Essenz der stärkeren Positionen ab.

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