Hightech-Prothesen: Die Macht der Gedanken

Die Schnittstellen zwischen Neuronen und Computerchips werden immer besser. Selbst das Fühlen mit einer Robot-Hand ist schon möglich.

Noch können die künstlichen Ersatzteile mit dem Original nicht mithalten. Bild: imago/biky

„Er kann mich im Arsch lecken“, soll der wohl bekannteste historische Prothesenträger Götz von Berlichingen laut Johann Wolfgang Goethe gesagt haben. Das Arsch-leck-Zitat entsprang zwar der Fantasie des Dichterfürsten, nicht aber die „eiserne Hand“, die von Berlichingen sich 1505 von einem Dorfschmied anfertigen ließ. Das technische Meisterwerk galt im Mittelalter als Sensation.

Der rauflustige Ritter konnte nämlich die Finger der Eisenhand durch ein System von Federn und Zahnrädern einzeln bewegen. Dies ermöglichte wesentlich mehr Bewegungsfreiheit als der Enterhaken, der Amputierten damals gewöhnlich verpasst wurde. Götz konnte wieder zum Schwert greifen und in Deutschland war die moderne Prothese geboren.

Obwohl Prothesen heutzutage raffinierte Hightech-Konstruktionen sind, die ihren Trägern sogar sportliche Höchstleistungen ermöglichen, so war natürliche Gedankensteuerung als Standard bislang Zukunftsmusik. Dies könnte sich allerdings bald ändern, denn die Prothetik erlebt seit einiger Zeit einen „bionischen“ Riesensprung.

Im Zentrum dieser Entwicklung stehen zukunftsweisende Technologien wie das Einpflanzen von Elektrodenträgern in das menschliche Gehirn, „Target Muscle Reinnervation“ (selektiver Nerventransfer) und Osseointegration (von „osteon“, dem griechischen Wort für Knochen). Mittels dieser Verfahren werden unter anderem neuronale Aktivitäten ausgelesen, um Roboterarme zu steuern, aber auch Knochen und Nervenenden von Stümpfen mit Prothesen verbunden, sodass Letztere durch Signale vom Gehirn über die Nervenbahnen gesteuert werden können.

Was wie eine Szene aus dem Science-Fiction-Streifen „RoboCop“ klingt, kommt der Wirklichkeit inzwischen recht nahe. Ende 2014 wurden im California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena einer Patientin Elektroden ins Gehirn eingepflanzt, mit deren Hilfe ein Roboterarm gesteuert sowie das Gehirn stimuliert werden kann, um Berührungsreize zu simulieren. Auch die University of Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania arbeitet seit 2011 mit Patienten, die Prothesen mithilfe von neuronalen Implantaten kontrollieren können.

Gehirnströme auslesen

Die daraus resultierende Bewegungsfreiheit der Amputierten ist zum Teil beträchtlich. So präsentierte der Caltech-Neurowissenschaftler Christian Klaes auf einer Tagung der Society for Neuroscience in Washington Ende 2014 die Daten eines Patienten, der mithilfe eines Elektrodenimplantats in der hinteren Region des parietalen Kortex mit seiner Prothese Videospiele und das Handspiel Schere-Stein-Papier gemeistert hatte.

Die amerikanische Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa) finanziert inzwischen die Entwicklung von Prothesen, die Gehirnströme auslesen, und Implantaten, die Organe, zum Beispiel zur Insulinproduktion, anregen können.

Die aktuellen wissenschaftlichen Entwicklungen im Bereich bionische Prothetik in den USA erregen seit einiger Zeit die Aufmerksamkeit der US Food and Drug Administration (FDA), die derzeit über eine gesetzliche Regulierung dieser Hirn-Computer-Schnittstellen (Brain-Computer Interfaces) nachdenkt.

Im Mai 2014 hatte die FDA bereits den von Darpa gesponserten „Deka“-Arm zugelassen, die erste kommerzielle gedankengesteuerte Prothese. Der „Deka“-Arm beruht auf einer Idee des amerikanischen Erfinders Dean Kamen, Vater des Ein-Personen-Elektromobils Segway.

Am Skelett verankert

Aber auch in Europa macht die bionische Prothetik gewaltige Fortschritte. So wurde dem 42-jährigen Schweden Magnus (der Familienname wurde zum Schutz der Privatsphäre nicht veröffentlicht) im Januar 2013 eine gedankengesteuerte, robotische Armprothese chirurgisch direkt am Skelett verankert. „Wir haben Osseointegration eingesetzt, um eine langfristige, stabile Verbindung zwischen Mensch und Maschine zu schaffen“, resümierte Max Ortiz Catalan, an dem Projekt beteiligter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Chalmers Institute of Technology in Göteborg. „Dies kreiert eine intime Einheit zwischen Körper und Maschine, zwischen Biologie und Mechatronik.“

Bislang wurde die Prothese des Schweden mithilfe von auf der Haut sitzenden Elektroden gesteuert, deren Funktionsfähigkeit allerdings durch extreme Temperaturen oder menschlichen Schweiß eingeschränkt wird. Der „bionische“ Arm lässt sich außerdem mit weniger Aufwand und mehr Präzision kontrollieren.

Dank des neuen technischen Wunderwerks kann der Trucker auch komplexere Bewegungsabläufe, wie das Steuern eines Schneemobils oder das Zubinden von Schnürsenkeln, gedankengesteuert ausführen. Sogar zerbrechliche Gegenstände kann Magnus mit seiner Roboterhand halten, ohne sie zu beschädigen: „Der Arm funktioniert so gut, dass er sich wie mein alter anfühlt“, sagt der Schwede dem US-Nachrichtenmagazin Newsweek, „nicht wie ein Werkzeug oder eine Maschine.“

Eine Hand mit Gefühl

Im benachbarten Dänemark wird die Bionik – die Vereinigung von technischen und biologischen Eigenschaften – ebenfalls mit Eifer vorangetrieben. Der 37-jährige Däne Dennis Aabo Sørensen ist seit 2013 stolzer Besitzer eines technologisch ausgereiften Prothesen-Prototyps, mit dessen Hilfe er sogar „fühlen“ kann.

Dem Amputierten, der bei einem Feuerwerksunfall vor mehr als zehn Jahren seinen Unterarm verloren hatte, wurden Mikroelektroden in den Mittel- und Ellennerv des Oberarms implantiert, die auf Sensoren in einer prosthetischen Hand reagieren. Das Resultat: Der Däne kann mit seiner „Roboterhand“ beim Anfassen von Gegenständen unterschiedliche Kräfte walten lassen und zwischen der Form und Beschaffenheit verschiedener Objekte unterscheiden.

Von einer funktionsfähigen Robo-Hand, wie sie Luke Skywalker (Mark Hamill) in dem Sci-Fi-Kultfilm „Das Imperium schlägt zurück“ verpasst wurde, ist Sørensens bionische Prothese allerdings noch weit entfernt. Das Computersystem für das Auslesen der Sensoren und der elektrische Stimulator sind noch nicht implantierbar, sprich: der Däne konnte mit seiner „Hightech-Prothese“ nur im Labor fühlen.

Eine der Zielgruppen sind Kriegsversehrte

Für einen anderen Ansatz als seine europäischen Kollegen entschied sich der Amerikaner Dustin Tyler, außerordentlicher Professor für Biomedizintechnik an der Case Western University. Statt Elektroden direkt in die Nervenbahnen einzupflanzen, griff Tyler auf Mikroelektroden zurück, die um die Nervenstränge herum platziert werden.

Eine der „Zielgruppen“ für Bionik-Technologie sind natürlich Kriegsversehrte wie der britische Unteroffizier Andrew Garthwaite, dem 2010 bei einem militärischen Einsatz in Helmand, Afghanistan, eine Granate den rechten Arm abriss.

Garthwaite ist seit 2013 der erste Brite mit einer gedankengesteuerten Prothese, die von dem deutschen Medizintechnik-Unternehmen Ottobock in Wien entwickelt wurde. „Weil ich drei Jahre lang keinen Daumen oder Finger hatte, war es merkwürdig, plötzlich wieder zu fühlen. Ich musste mein Gehirn erst trainieren, diese Hand zu bewegen“, erinnerte sich Garthwaite. Und das geht manchmal auch schief: Wenn der „Bionik“-Brite zu hektisch daran denkt, seinen kleinen Finger zu bewegen, dreht sich die ganze Hand – um 360 Grad. „Das ist mein Party-Trick“, lacht er.

Bis zur Massenherstellung von gedankengesteuerten und „fühlenden“ künstlichen Gliedmaßen dürfte noch eine Weile vergehen, aber das Zeitalter des bionischen Menschen ist zweifelsohne angebrochen.

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