Hirntod-Diagnose: Fehler bei der Feststellung

Für eine Organspende muss der vollständige und irreversible Hirntod festgestellt werden. Dabei werden die Vorschriften oft nicht eingehalten.

Für eine Organspende muss der Hirntod zweifelsfrei festgestellt werden. Bild: dapd

BERLIN taz | Der Anruf liegt schon ein paar Jahre zurück, doch die Aufregung, die er vorübergehend auslöste, hat der Neurologe Clemens Dobis aus Dortmund nicht vergessen: Ärzte aus einem Krankenhaus im Westfälischen hatten um Hilfe gebeten. Ihre Patientin zeige Zeichen, die auf einen Hirntod hindeuten könnten.

Dobis, damals ärztlicher Koordinator bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), die die Durchführung sämtlicher Organspenden in Deutschland verantwortet, schlug ein orientierendes Konsil vor, das ist eine Art patientenbezogene Beratung eines Arztes durch einen anderen Kollegen.

Aber weil er, Dobis, die Diagnostik des Hirntods – zwingende Voraussetzung für eine Organspende – als DSO-Mitarbeiter, Stichwort Interessenkonflikte, nicht selbst durchführen durfte, fuhr er, wie immer in solchen Fällen, mit einem niedergelassenen Neurologen aus Nordrhein-Westfalen in die Klinik.

Kaum eine medizinische Prozedur ist so verbindlich geregelt wie die Hirntoddiagnostik. Seit 1997 besteht hierzu eine quasi gesetzliche Regelung durch das Transplantationsgesetz. Sie basiert auf Richtlinien der Bundesärztekammer und ist zwingende Voraussetzung für postmortale Organentnahmen.

Der Hirntod, also der vollständige, zweifelsfreie und unwiederbringliche Verlust sämtlicher Hirnfunktionen, muss von zwei neurologisch und intensivmedizinisch erfahrenen Ärzten unabhängig voneinander festgestellt werden. Die Ärzte dürfen weder an einer späteren etwaigen Entnahme der Organe noch an deren Transplantation beteiligt sein. Die schwammige Formulierung, dass die diagnostizierenden Ärzte lediglich „erfahren“ sein sollen, nicht aber zwingend einen Facharzttitel in den Disziplinen der Neurologie, Neurochirurgie, Neuropädiatrie oder Anästhesie vorweisen müssen, wird seit Jahren auch von Medizinern kritisiert - bislang ohne Konsequenzen.

Voraussetzungen für die Untersuchung sind eine akute primäre oder sekundäre Hirnschädigung sowie der Ausschluss einer anderen Ursache für einen - eventuell nur zeitweiligen - Ausfall der Hirnfunktionen (z.B. Vergiftung, Schock, Unterkühlung).

Folgende klinische Kriterien müssen zum Beweis des Hirntodes zwingend nachgewiesen sein: Bewusstlosigkeit, Verlust der Hirnstammreflexe, Atemstillstand. Diese Parameter repräsentieren weltweit die anerkannten Kriterien des Hirntods. Die Testverfahren variieren von Land zu Land. In Deutschland etwa kritisieren Experten, dass der Hirntod in jeder Intensivstation durch klinische Untersuchungen festgestellt werden kann, dass dies aber auch ohne ergänzende apparative Diagnostik möglich ist, sofern das zweite Lebensjahr vollendet ist und primär keine Verletzung unterhalb des Kleinhirnzeltes vorliegt. Auch die zwingende Durchführung einer zerebralen Bildgebung (etwa Computertomografie) wird an keiner Stelle gefordert.

Der Nachweis, dass der Hirntod unumkehrbar ist, kann auf zwei Arten nachgewiesen werden: Durch Wiederholung der klinischen Untersuchung nach einer alters- und befundabhängigen Wartezeit (bei reifen Neugeborenen und Erwachsenen mit sekundärer Hirnschädigung drei Tage) oder durch eine simultane Anwendung apparativer Zusatzuntersuchungen.

Was der feststellte, überraschte die Kollegen vor Ort: Das Gehirn der Patientin war keineswegs unwiederbringlich erloschen, wie zunächst vermutet; die Frau litt vielmehr an einem so genannten Locked-in-Syndrom, war also bei Bewusstsein, jedoch körperlich nahezu vollständig gelähmt und damit unfähig, sich sprachlich oder durch Zeichen verständlich zu machen.

Nun ist ein Locked-in-Syndrom allein schon aufgrund der nachweislich noch existierenden Gehirnreflexe definitiv nicht mit dem Hirntod zu verwechseln; das wäre auch den Klinikkollegen aufgefallen, hätten sie die Untersuchung selbst gemacht. Der Fall zeigt jedoch, wie groß die Unsicherheit unter Ärzten in Sachen Hirntod ist.

„Die Kollegen haben sich vorbildlich verhalten“, sagt Clemens Dobis. „Ihnen war die Sache nicht geheuer, also haben sie Experten gerufen.“

Sie beherrschen die einzelnen Untersuchungsschritte nicht

Was aber, wenn das nicht passiert? Wenn Ärzte, obwohl sie sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlen, die Hirntoddiagnostik durchführen, also eine Untersuchung machen, die der Feststellung des Todes dient, und ausgerechnet dabei ungenau vorgehen oder gar Fehler machen? Weil sie etwa einzelne Untersuchungsschritte nicht beherrschen, die vorgeschriebenen Zeiten zwischen den Untersuchungen nicht einhalten, den einen Test vergessen, den anderen nicht dokumentieren oder sein Ergebnis falsch interpretieren?

Einiges deutet darauf hin, dass solche Vorkommnisse keine Einzelfälle sind. Der Medizinische Vorstand der DSO, Günter Kirste, lässt derzeit die Dokumentation zurückliegender Hirntoddiagnostiken in ganz Deutschland auf Sorgfältigkeit und Zweifelsfreiheit überprüfen: „Der Vorstand bittet die Geschäftsführenden Ärzte, alle nicht korrekt durchgeführten Hirntoddiagnostiken zu melden“, heißt es im Protokoll einer DSO-Vorstandstagung vom 27. September 2012.

Um wie viele Fälle es sich bislang handelt und welcher Art die Regelverstöße sind, teilt Kirste der taz auf Nachfrage nicht mit. Nur so viel: Zwei nicht richtlinienkonforme Fälle aus Nordrhein-Westfalen, über die Kirste seinen Mitarbeitern laut Protokoll „mit dem Hinweis auf Verschwiegenheit“ berichtete, zeigten, so jedenfalls sieht es Kirste, „wie wirkungsvoll die von der DSO eingeführten Kontrollen der formalen Voraussetzungen der Hirntoddiagnostik sind“.

Die Verstöße gegen die Richtlinien der Bundesärztekammer seien von DSO-Mitarbeitern entdeckt und gemeldet worden; eine Organentnahme sei „aus diesem Grund“ nicht durchgeführt worden. Also alles prima?

Mitnichten. Fälle wie diese – so sie denn zufällig entdeckt werden – hatten bislang praktisch keine Konsequenzen: Die hierfür zuständige Bundesärztekammer nimmt aus eigener Initiative kaum Reformen in Angriff für mehr Qualitätssicherung bei der Hirntoddiagnostik, besserer Ausbildung der angehenden Ärzte und einer Reform der Richtlinien, die die Durchführung der Hirntoddiagnostik derzeit fast jedem Arzt mit ein wenig Intensivmedizinerfahrung erlaubt. Anfragen der taz hierzu lässt der Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery unbeantwortet.

Medizinern mangelt es an Erfahrung

„In der Hand des Erfahrenen ist die Hirntoddiagnostik eine der sichersten Diagnostiken in der Medizin“, urteilt der Hannoveraner Neurologe Hermann Deutschmann.

Doch an genau dieser Erfahrung mangele es vielen Medizinern: Zwischen 2000 und Ende 2005 wertete Deutschmann als damaliger Leiter eines DSO-Bereitschaftsteams 224 Hirntodprotokolle aus, die bereits von Krankenhausärzten unterschrieben waren, als schließlich er und sein Team konsiliarisch dazu gerufen wurden. „In 70 Fällen, also bei einem Drittel, war der Hirntod aber fehlerhaft dokumentiert“, sagt Deutschmann.

Häufig handelte es sich um formale oder dokumentarische Fehler; die Protokolle trugen etwa ein falsches Datum oder es war vergessen worden zu notieren, bei welchem Blutdruck untersucht worden war. In anderen Fällen war der Spontanatmungstest nicht korrekt durchgeführt worden, „viele Ärzte wissen gar nicht, was das ist“, sagt Deutschmann. Mal wurde ein Null-Linien-EEG diagnostiziert, obwohl noch Ausschläge da waren, mal die Hirntoddiagnostik bei laufender Schlafmittelgabe durchgeführt – dies kann einen Ausfall der Hirnfunktionen vortäuschen. „Wir haben diese Dinge dann korrigiert“, sagt Deutschmann.

Das Problem: Dem Missverständnis geschuldet, die Bereitschaft zur Organspende werde weiter sinken, sollten Details über ärztliche Unkenntnis oder Fehlverhalten bekannt werden, findet ein offensiver Umgang mit Fehlern nicht statt. Die Überwachungskommission bei der Bundesärztekammer, zuständig für die Untersuchung etwaiger Regelverstöße rund um die Organspende, reagiert auf Nachfrage zu einzelnen Fällen: mit Schweigen.

Die DSO immerhin führt nach Angaben ihres Vorstands seit etwa zwei Jahren vor Organentnahmen eine zusätzliche Prüfung durch, um die Qualitätssicherung der Hirntoddiagnostik zu erhöhen.

„Strafrechtliche Konsequenzen verjährt“

Vorausgegangen waren zwei Hirntoddiagnostiken an Kliniken in Westdeutschland*, die gegen das Transplantationsgesetz verstießen: In dem einen Fall lag die Hinrtoddiagnostik zum Zeitpunkt der Organentnahme nicht vollständig dokumentiert vor. In dem anderen Fall hatten Ärzte nicht die gesetzlich vorgeschriebene Zeitspanne zwischen den verschiedenen Untersuchungen abgewartet, bevor sie erneut hätten überprüfen dürfen, ob sämtliche Funktionen des Gehirns ausgefallen waren (Diese erneute Untersuchung dient dem Unwiderruflichkeitsnachweis). In beiden Fällen wurden dennoch Organe entnommen.

Die Überwachungskommission reduzierte die Regelverstöße später in ihrem Jahresbericht 2010 auf eine „Problematik der Diagnostik und Dokumentation“ und kam, freilich ausschließlich aufgrund ihrer eigenen Prüfungen, zu dem Schluss, in dem ersten Fall seien „eventuelle strafrechtliche Konsequenzen verjährt“ – weswegen sich eine Weitergabe an die Staatsanwaltschaft offenbar verbot.

In dem Fall der verfrühten Untersuchung immerhin sei „nach Abschluss der Beratungen die Staatsanwaltschaft eingeschaltet worden“. Doch diese kann, das sagte ein Sprecher der taz, einen entsprechenden Eingang nicht finden.

Und die DSO? Schiebt den schwarzen Peter der Klinik zu: „Die formale Prüfung der Hirntoddiagnostik lag seinerzeit noch in der ausschließlichen Verantwortung des jeweiligen Klinikums, und nicht der DSO.“ Und dann, wie um doppelte Absolution bemüht: „Der Vollständigkeit halber sei aber darauf hingewiesen, dass auch nachträgliche Untersuchungen zweifelsfrei ergeben haben, dass der Spender im Zeitpunkt der Entnahme tot war.“

*Die Kliniken sowie weitere Daten und Abläufe der dort durchgeführten Hirntoddiagnostiken sind der taz bekannt, werden aber - mit Rücksicht auf die Angehörigen und um die Möglichkeit der Rückverfolgung auszuschließen - nicht publiziert.

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