Homeoffice in der Pandemie: Zu Hause sein ist jetzt Arbeit

Die Coronapandemie hat unser Leben durchgeschüttelt. Im Homeoffice leben wir das Leben von Frührentnern. Die Hauptsache: obenrum gut aussehen.

Blick unter den Schreibtisch im Home Office: Ein Mann trägt grüne Socken und Hausschuh-Sandalen

Untenrum: egal Foto: Ute Grabowsky/imago

Immer mehr Menschen wissen nach diesem Jahr nicht mehr, wo vorne und hinten ist – geschweige denn kann ein großer Teil von ihnen unterscheiden, was noch Arbeitsleben ist und was privates Dasein. Prominentestes Opfer dieser Dauerverwechslung war der New Yorker Journalist Jeffrey Toobin (New Yorker), der sich während eines Job-Zoomcalls „entblößt“ hatte, um einem menschlichen, üblicherweise im Privaten verorteten Bedürfnis nachzugehen – in der fälschlichen Annahme, dass seine Kamera ausgeschaltet wäre.

Plötzlich war Toobin nicht mehr bloß einer von Millionen Menschen ohne Unterleib, die im „Homeoffice“ zur täglichen „Muppet Show“-Konferenz antraten, sondern ein weltweit am Digitalpranger beschämter Mann, der schließlich sogar seines Jobs verlustig ging: Der New Yorker trennte sich von ihm, ebenso der Fernsehsender CNN, in dem er regelmäßig kommentiert hatte.

Hätte er nur ein wenig später und einen Raum weiter masturbiert, etwa während des üblich gewordenen Business-Power-Naps auf der heimischen Couch, wäre alles weiter seinen geregelten Coronagang gegangen.

Ein Alltag, der längst nicht mehr Ausnahme zu sein scheint, sondern auf die Zukunft verweist: Menschen, die ihren Beruf am Bildschirm ausüben können, sind zur Unzeit in ein Leben als Frührentner katapultiert worden, in dem schon morgens mit Brötchentüten und Printzeitungen geraschelt wird – womöglich sogar im Bett, denn auch von dort aus kann man ja locker die ersten Mails des Tages beantworten. „Vielen Dank für Ihre rasche Antwort.“

Richtig ernst wird es ja erst zu besagter Zoom-/Teams-/Skypekonferenz, anlässlich derer der Oberkörper provisorisch ansehnlich hergerichtet werden muss. Um sich selbst über den milden Gefängnischarakter der neuen Work-Life-Verschränkung hinwegzutäuschen, verlässt mancher noch vor dieser Konferenz rasch das Haus, um in Ermangelung eines Gassi zu führenden Hundes zum Bäcker/Lebensmittelhändler/Bioladen um die Ecke zu gehen.

Die Rotweinflasche leer unter der Spüle

Schon mal für das Mittagessen einkaufen, also vor der Konferenz für nach der Konferenz: Vielleicht ein kleiner Salat, vielleicht ein belegtes Baguette oder eine kleine Suppe, gar eine Bowl mit hippen Hülsenfrüchten und zurückhaltend gegartem Gemüse.

Im Homeoffice wird mittags in der heimischen Küche ein Business-Lunch simuliert, die gußeisernen Bräter, chromschimmernden Töpfe und elektrischen Gerätschaften kommen erst abends zum Einsatz, nach „Feierabend“, wenn unter körperlich-geistigem Höchsteinsatz gastronomische Spitzenleistungen erzeugt werden.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Doch bis auch dieser Tag herumgebracht sein wird und die Rotweinflasche leer unter der Spüle steht, ist es noch ein weiter Weg. Nach dem obligatorischen neobiedermeierlichen Mittagsschlaf als festem Bestandteil des Arbeitstags und weiteren Bürotätigkeiten stehen Spaziergehbesprechungen auf dem Programm, zu zweit oder gar in Kleingruppen. Auch in öffentlichen Parkanlagen wird nun schwer gearbeitet. Nicht nur mehr Hecken werden dort gestutzt und wacker Substanzhandel getrieben, auch Buchprojekte und Kampagnen werden dort entwickelt. Und Gott weiß was alles unter grauem Himmel gepitched.

Erst danach kehrt der Frührentner-Akkordarbeiter wieder zurück in sein Heimbüro, um weiteren sinnvollen Tätigkeiten nachzugehen. Es gilt, mithilfe multipler Devices die Wochenbildschirmzeit in die Höhe zu treiben. Daten müssen erzeugt und Cookies hinterlassen werden.

Auch online lässt sich nun noch einiges konsumieren, ganz ohne Maske, Abstand und Händedesinfektion – bis es endlich an der Zeit ist, das opulente Abendessen zuzubereiten, das irgendwann im Time-Slot zwischen endender „Heute“-Sendung und beginnender „Tagesschau“ konsumiert wird. (Danach spätestens ist Shutdown für die Öffentlich-Rechtlichen und das gutbürgerliche Streamen beginnt.)

Zu Hause sein ist Arbeit geworden. Und Wohnen längst der reinste Stress. Ein Leben, in dem die Nachbarn von Untendrunter sich nicht mehr über Partylärm oder zu viel Besuch beschweren, sondern über zu lautes Rücken von Bürostühlen.

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