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Homeschooling in den USALernen, was die Eltern für richtig halten

Immer weniger Kinder besuchen in Florida staatliche Schulen. Das ist ganz im Sinne der Trump-Regierung. Ein Besuch im Sunshine State.

Mulan Brice (8, links) und Diazyia Ceant (5) winken ihrer Familie zu, als sie am ersten Schultag auf dem Weg zum Unterricht sind Foto: Chris Urso/ZUMA Press/imago

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Sophie Tiedemann aus Aus Orlando und Florida

Kurz bevor der Countdown stoppt, betritt Shannon Couillard den Gebetsraum. Sie nimmt in der zweiten Reihe Platz und steht direkt wieder auf. Eine Band betritt die Bühne. „I love that you loved me first!“, ruft ein junger Sänger und richtet sich an Jesus. Die Pastorin stimmt mit ein. Sie streckt ihre Hände gen Himmel und geht bei besonders kraftvollen Passagen in die Knie. Das Publikum ruft „Amen!“

Es ist 8.30 Uhr an einem Oktobermorgen in Oviedo, einer Kleinstadt vor Orlando im US-Bundesstaat Florida. Villen mit Privatufern am See reihen sich aneinander. Geländewagen glänzen in der Sonne. In der East Coast Believers Church ist es voll und laut. Neulinge verlassen den Gottesdienst mit Willkommensgeschenken. Andere verabreden sich zum Lunch. Viele der anwesenden Familien gehören zur schnell wachsenden Homeschooling-Community in Florida. Auch Shannon Couillard unterrichtet ihren Sohn Colin, 5 Jahre alt, zu Hause.

Jetzt wirbelt er mit seiner kleinen Schwester Colette durch einen Donutladen. Für die Entscheidung, ihre Kinder nicht in die Schule zu schicken, sei ihr Glaube zwar nicht ausschlaggebend gewesen, sagt Couillard. Aber sie könne so sichergehen, dass sie von gleichgesinnten, gottesfürchtigen Menschen umgeben sind. In Couillards Freundeskreis unterrichten viele Familien ihre Kinder ebenfalls zuhause. Der noch wichtigere Grund für Couillard: „Unsere Kinder sind individuelle Menschen. Also haben sie auch eine individuelle Bildung verdient.“

„Natürlich geraten die Schulen in Panik“

Damit trifft Couillard den amerikanischen Zeitgeist. Ein Blick nach Florida offenbart, wie amerikanische Schulbildung in Zukunft aussehen könnte. Kinder in Orlando lernen heute in Microschools, in gemieteten Räumen in Einkaufszentren, im Online-Unterricht – oder in sogenannten Co-Ops, Zusammenschlüssen von Homeschool-Familien.

Staatliche Schulen in Orlando stellen derweil Beratungsteams ein. Sie ziehen von Tür zu Tür, um Schü­le­r:in­nen zu gewinnen. Ob Couillard den möglichen Verlust öffentlicher Schulen bedauere? „Natürlich geraten die Schulen in Panik“, sagt sie. Sinkende Schülerzahlen bedeuten eben weniger Geld. Aber sie sei nicht für die Schulen verantwortlich, sondern für ihre Kinder.

Familien in Florida können inzwischen rund 8.000 Dollar pro Jahr aus öffentlichen Mitteln für private oder religiöse Bildungsangebote nutzen – also auch für Homeschooling. Kri­ti­ke­r:in­nen warnen, dass dem staatlichen Schulsystem dadurch Milliarden entzogen werden. Denn wenn Schü­le­r:in­nen staatliche Schulen verlassen, bekommt die jeweilige Schule auch kein Geld mehr für das Kind. Die Mittel fließen stattdessen an Privatschulen oder eben an die Eltern, sollten sie sich für Homeschooling entscheiden.

Die „finale Mission“: Das Bildungsministerium abschaffen

Die Zahl der Kinder, die in Florida zu Hause unterrichtet werden, ist innerhalb der letzten fünf Jahre um fast 50% gestiegen. Eltern erhoffen sich vom Homeschooling oft, dass ihre Kinder nur noch mit Inhalten konfrontiert werden, die im Einklang mit ihren eigenen Werten stehen. Mehr Familienzeit. Viele wollen ihre Kinder auch vor Mobbing oder Amokläufen schützen. Die meisten Homeschooler sind weder ultrarechts noch entsprechen sie dem alten Bild abgeschotteter Eigenbrötler.

Die US-Regierung verspricht: maximale elterliche Freiheit.

Doch unter Donald Trump gewinnt die Bewegung an Momentum. Im Project 2025, dem autoritären Fahrplan für die aktuelle US-Regierung der rechtskonservativen Heritage Foundation, heißt es: „Der Präsident sollte Bildungsangebote außerhalb der von ‚Wokeness‘ dominierten öffentlichen Schulen fördern“.

Lindsey Burke, Hauptautorin des Bildungskapitels, sitzt inzwischen im Bildungsministerium. Laut Recherchen von ProPublica will sie möglichst vielen Familien den Ausstieg aus staatlichen Schulen ermöglichen. Das Ministerium selbst soll abgeschafft werden. Bildungsministerin Linda McMahon nennt das die „finale Mission“. Die US-Regierung verspricht: maximale elterliche Freiheit.

„Die Fähigkeit geht verloren, sich als Teil eines diversen Landes zu begreifen“

Für Homeschoolerin Couillard bedeutet diese Freiheit, dass sie mit ihren Kindern nach Südflorida fahren kann, um sich am Strand unter einem Mikroskop den Sand anzuschauen. Als ihr Sohn noch klein war, habe sie Angst bekommen, durch ihre Arbeit die gemeinsame Zeit zu verpassen.

Beschlossen, ihre Kinder nicht einzuschulen, hatte Couillard aber schon lange vor deren Geburt. Damals arbeitete sie bei einem Schulbuchverlag. Ständig habe sie Inhalte wieder ändern müssen, weil sie irgendwem nicht gepasst haben. Natürlich sei es wichtig, dass jede Bevölkerungsgruppe repräsentiert wird. „Aber wir verkürzen unsere Geschichte, nur um jede einzelne Minderheit mit einzubeziehen,“ findet Couillard. Ein Anruf bei Kasey Meehan. Für die Organisation PEN America, die sich für die Rechte von Literaturschaffenden und gegen Zensur einsetzt, beobachtet sie, wie politische Entscheidungen den Unterricht in den USA beeinflussen. Sie sagt: „Es ist eine politische Strategie, Empörung gegen öffentliche Schulen zu schüren.“ Das Ziel sei, Gelder in privatisierte Bildung umzuleiten. Die Gefahr: Schü­le­r:in­nen könnten bald nur noch mit einem kleinen Spektrum an Überzeugungen in Berührung kommen. „Dabei geht die Fähigkeit verloren, sich als Teil dieses diversen Landes zu begreifen.“

Unterricht aus „christlicher Perspektive“

Eine Vorstadtsiedlung vor Orlando, wenige Tage später. Mittagshitze. Die Straße ist ausgestorben. Verlassene Basketballkörbe stehen in den Einfahrten. Brandy Pava öffnet die Tür. Tätowierte Arme, einladendes Lächeln. „Willkommen!“. Ihr Mann ist Kolumbianer, erzählt Pava, während sie Kuchen serviert. Sie hat Angst um ihn, landesweit gehen Beamte der US-Einwanderungsbehörde ICE brutal gegen mutmaßlich papierlose Ein­wan­de­re­r:­in­nen vor. Er ist überzeugter Republikaner und fürchtet sich nicht.

Die ersten Jahre ihres Lebens haben ihre gemeinsamen drei Kinder in Mexiko verbracht. Dort sei es üblich, für ein paar Stunden zur Schule zu gehen und den restlichen Tag mit der Familie zu verbringen, erzählt sie. „Ich liebe die Freiheit hier in Florida“, sagt sie. Inzwischen kommt zweimal pro Woche eine Tutorin zu ihnen nach Hause. Den Rest übernimmt Pava. Ihr Mann arbeitet bei einer amerikanischen Airline und ist oft unterwegs.

Pava will ihren Kindern das vermitteln, was sie für richtig hält. Aus einer christlichen Perspektive. „Will ich, dass sie glauben, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen ein normaler Teil von Familien sind? Nein.“ Wie würde sie reagieren, wenn sich eines ihrer Kinder outen würde? „Ich freue mich, wenn sie glücklich sind“, sagt sie. „Ich möchte es ihnen einfach nicht beibringen.“

Homeschooling, um Kinder vor Rassismus zu schützen

Ron DeSantis, republikanischer Gouverneur von Florida, brachte es durch rechte Identitätspolitik in Klassenzimmern zu nationaler Bekanntheit. Aus seiner Feder stammt das sogenannte „Don’t Say Gay”-Gesetz, es verbietet das Sprechen über Sexualität in öffentlichen Schulen.

Orlando Downtown, wieder im Oktober. Diesmal ist es draußen trüb. In einem Café sitzt Nirmala Prakash. Auch sie bestellt sich die Leh­re­r:in­nen inzwischen nach Hause. Einen Tutor für Naturwissenschaften, eine Englischlehrerin. Laut der National Education Association liegt Florida beim durchschnittlichen Gehalt für Leh­re­r:in­nen staatlicher Schulen in den USA auf dem letzten Platz. Auf Facebook verkaufen dafür Eltern ihre Kurse und Lehrpläne. Lindsey Burke aus dem US-Bildungsministerium erklärte, sie sei gegen jegliche Regulierung. Stattdessen sollen Yelp-ähnliche Bewertungen helfen, Entscheidungen bei der Bildung der Kinder zu treffen.Ihre Tochter sei hochbegabt und befinde sich auf dem Autismus-Spektrum, sagt Prakash. Eine staatliche Schule sei deshalb für sie nicht in Frage gekommen. Politisch sei Florida zwar absurd. „Aber bildungstechnisch haben wir hier alle Möglichkeiten der Welt.“ Sie möchte ihre Tochter vor ultrakonservativen Einflüssen schützen. Und vor Rassismus. „Auf Facebook gibt es viele Black-Homeschooling-Gruppen“, sagt sie. In Florida hat sie Prakash bis heute nicht gefunden.

Aktivismus für öffentliche Bildung

Manche in Orlando kämpfen dafür, dass staatliche Schulen bestehen bleiben. Eine von ihnen ist Stephanie Vanos. Als Donald Trump 2016 zum ersten Mal gewählt wurde, dachte sie: „Wir müssen unsere Kinder schützen.“ Sie ist Mutter dreier Töchter, bezeichnet sich als Aktivistin für öffentliche Bildung.

Sie beschreibt ihr Dilemma: „Ich finde, öffentliche Schulen sollten keine politischen Orte sein“, sagt sie. Aber inzwischen färbe Trumps autoritärer Regierungsstil auf die Bundesstaaten ab. Staatliche Schulen hätten immer weniger Mittel zur Verfügung. „Ich weigere mich, den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als würde all das nicht passieren.“

Wie die Bildung der Zukunft in Amerika aussehen könnte? „Das gesamte Bildungssystem wird privatisiert sein, wenn es so weitergeht“, sagt Vanos. Lindsey Burke kündigte bereits Anfang des Jahres an: „Wir werden eine Menge leerer Schulgebäude haben.“

Diese Recherche wurde durch das Daniel-Haufler-Stipendium der taz Panter Stiftung ermöglicht.

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1 Kommentar

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  • „Dabei geht die Fähigkeit verloren, sich als Teil dieses diversen Landes zu begreifen.“



    Wenn alle homeschooling machen, müsste die Diversität erhalten bleiben. Ob die dann noch den anderen verstehen, ist eine andere Frage, aber das passiert heute ja nicht überall.



    Hoffentlich lernen sie etwas mehr als nur die Schreiben, Lesen und Rechnen - das sind ungefähr die Fähigkeiten, die Amish-Kindern beigebracht werden (und Hausarbeit, Werken).