Homosexuelle Vietnamesen in Berlin: Thanh hat zwei Leben

Homosexualität gilt unter Vietnamesen als ansteckende Krankheit. Viele Schwule müssen sich deshalb verstecken. Immerhin: Am Hackeschen Markt hat sich inzwischen eine kleine Szene schwuler vietnamesischer Gastronomen entwickelt.

Der Abiturient Thanh hat zwei Leben. Das eine verläuft in seiner Familie in Marzahn. Der 18-jährige Vietnamese, der vor zehn Jahren mit seinen Eltern als Asylbewerber nach Deutschland kam, weiß die Harmonie und die Wärme seiner Eltern und Verwandten zu schätzen. „Grundwerte wie Treue und Vertrauen sind für mich von großer Bedeutung“, sagt er. Thanh isst gern in vietnamesischen Restaurants in Marzahn. Er kauft in den dortigen Asiamärkten ein. Und er chattet von seinem Computer aus mit seiner Lieblingscousine in Hanoi. Sein zweites Leben hat mit Vietnamesen nichts zu tun. Er geht in einem anderen Bezirk aufs Gymnasium. Sein Freundeskreis besteht fast nur aus Deutschen. Aus Freunden, „mit denen ich durch dick und dünn gegangen bin“, wie er sagt.

Thanh verbringt seine Freizeit gern am Nollendorfplatz – in Bars mit der Regenbogenfahne und auf Schwulenpartys. Er ist schwul. Seine Eltern, seine Verwandten, die vietnamesische Community in Marzahn ahnen davon nichts. Seine deutschen Schulkameraden und Freunde wissen es alle.

Thanh, der in Wirklichkeit anders heißt, hat sich bereits im Alter von zwölf Jahren zu Jungen hingezogen gefühlt. Ein Jahr später outete er gegenüber seinen Schulfreunden. Von ihnen ist er als Schwuler akzeptiert.

Doch er hat Angst vor der Zukunft. Das gibt der 18-Jährige unumwunden zu in einer Befragung des Archivs der Jugendkulturen zu seiner vietnamesischen Identität in Deutschland. Angst vor der Zukunft hat Thanh, weil er das Leben mit seiner Familie und das als Schwuler nicht miteinander vereinbaren kann. Für seine Familie gilt Homosexualität – wie für viele Vietnamesen – als ansteckende Krankheit. „Ich habe Angst, dass sie mich aus der Familie ausstoßen, wenn ich irgendwann den Mut aufbringe, ihnen zu sagen, dass ich schwul bin“, sagt er. Als er einmal mit seinen Eltern ganz allgemein über Homosexualität gesprochen hatte, hätte der Vater unumwunden erklärt, er würde ihn verstoßen, wenn er schwul wäre.

In seinem vietnamesischen Umfeld kennt Thanh genau zwei Schwule: seinen Friseur, der die Beziehung zu seinem Partner geheim hält, und den Sohn einer einst angesehenen Marzahner Familie. Dessen Eltern akzeptieren den Sohn. Deshalb wird die Familie von vielen vietnamesischen Familien im Ostteil der Stadt abgelehnt. Auch von Thanhs Eltern.

In der vietnamesischen Kultur spielen Familie und Ahnenkult eine große Rolle. Übers Heiraten entscheiden nicht nur die Brautleute allein, sondern auch die Familien. Eine Schwiegertochter soll in einer traditionellen Familie in den Haushalt der Schwiegereltern ziehen und diese nach allen Regeln der Kunst verwöhnen. Die Großeltern wiederum kümmern sich um die Enkel, während die Eltern arbeiten gehen und Geld verdienen. Viele vietnamesischen Gewerbetreibende haben keine Rentenversicherung und werden später auf ihre Kinder angewiesen sein. Nach einem arbeitsreichen Leben wünschen sich vietnamesische Eltern deshalb eine Schwiegertochter, die mit ihnen harmoniert, und Enkel, um sich endlich zurücklehnen zu können.

Das gibt schon bei heterosexuellen Töchtern und Söhnen des Öfteren Konflikte. Ein schwuler Sohn wird aber keine Schwiegertochter und keine Enkel ins Haus bringen. Und fast noch schlimmer: Nach dem Tod ist es Aufgabe des Sohns und des Enkelsohns, den Ahnenkult für sie zu zelebrieren. Nur so kommen ihre toten Seelen im Jenseits zur Ruhe. Gibt es keine Enkel, kann sich niemand dieser Aufgabe widmen. Dann irren nach der weit verbreiteten Naturreligion die Seelen als böse Geister umher und bringen Unglück über die Nachfahren.

Thanh möchte mit einem Partner zusammen alt werden. Beides – ein braver Sohn sein, der von der Familie und von der vietnamesischen Gemeinde in Berlin akzeptiert wird und offen mit einem Partner zusammenzuleben – hält er für unmöglich. „Ich werde wohl immer ein Leben zwischen zwei Welten führen müssen. Meiner Familie zu offenbaren, dass ich schwul bin, bedeutet im Endeffekt, meine Familie aufzugeben – und das will ich nicht.“ Und er leidet darunter, sich verstecken zu müssen.

Zum Beispiel bedauert er, dass er sich seiner Lieblingscousine in Hanoi gegenüber nicht outen kann. „Sie sagt, dass sie richtig Angst hat vor Schwulen, weil das ja ansteckend sein soll. Sie sagt, sie hätte schon Angst, wenn sie nur berührt wird von so einem. Dabei umarme ich sie, wenn ich dort bin, so oft am Tag, weil wir uns gern haben.“

Trotz Stigmatisierung hat sich in den vergangenen Jahren in Berlin am Hackeschen Markt eine kleine Community schwuler Vietnamesen etablieren können, erzählte André König. Der Enddreißiger ist schwul und lebt seit mehreren Jahren mit einem vietnamesischen Partner zusammen. Königs Schwiegereltern, ehemalige vietnamesische Bootsflüchtlinge, akzeptieren die Homosexualität und den Freund des Sohnes. „Ich musste mich nur daran gewöhnen, dass für meinen Freund die Eltern einen sehr viel höheren Stellenwert haben als für Deutsche“, sagt er. Und daran, dass sein Freund Homosexualität nicht für ein öffentliches Thema hält. Zum Gespräch mit der taz kam König allein. Und dem Freund zuliebe will er nicht mit richtigem Namen in der Zeitung stehen. „Sonst hätte ich keine Probleme, öffentlich zu sagen, dass ich schwul bin“, sagt der Kaufmann.

Rund um den Hackeschen Markt kennt er zahlreiche vietnamesische Szene-Restaurants, die sich in den letzten Jahren dort angesiedelt haben und die bei Touristen, Studenten und Bundesbediensteten gleichermaßen beliebt sind. „Mehrere dieser Restaurants werden erfolgreich von schwulen Vietnamesen und ihren deutschen Partnern betrieben“, erzählt König. Das sei aber nichts Besonderes. „Die Gastronomie habe nun mal familienfeindliche Arbeitszeiten. Deshalb werden Schwule gern in Restaurants angestellt, egal ob Europäer oder Asiaten.“

In den Restaurants treffen sich schwule Vietnamesen und ihre nichtvietnamesischen Partner und Freunde, erzählt König weiter. Von Ressentiments anderer Vietnamesen hat er noch nichts erfahren. Seine vietnamesischen Freunde sind alle schwul. Die meisten würden in der ersten Generation in Deutschland leben. Viele seien als Asylbewerber gekommen, andere zu ihrem deutschen Partner gezogen und genießen die Toleranz und Anonymität der Großstadt.

Solche Vietnamesen kennt auch Tamara Hentschel vom Verein Reistrommel in Marzahn. „Die sind dann froh, der Kontrolle ihrer Familien in Vietnam entkommen zu sein“, sagt sie. Die Situation der zweiten Generation von Vietnamesen sei da eine völlig andere. Long ist vietnamesischer Familienvater aus Lichtenberg und war noch nie in einem dieser Restaurants. Wenn er essen geht, dann bleibt er im eigenen Bezirk. Und warum ausgerechnet die vietnamesischen Restaurants rund um den Hackeschen Markt bei Deutschen so beliebt sind, kann er nicht nachvollziehen. Aber Deutsche seien ohnehin irgendwie verrückt. „Es ist teuer dort,“ sagt er. Long, der auch anders heißt, lächelt verlegen. Ja, er habe Angst, dort essen zu gehen, räumt er nach einiger Zeit ein. „Meine Landsleute sagen ja, das ist ansteckend.“

Thanh würde gern über das Internet einen Partner kennenlernen. „Ich denke, dass es egal ist, ob mein Partner Deutscher ist oder Vietnamese. Aber in meiner Fantasie ist er ein Vietnamese“, sagt der 18-Jährige. Das Problem: Chaträume für schwule Asiaten gibt es nicht. So hat er sich unter falschem Namen in virtuellen Asia-Communitys eingeloggt. „Ich bekam von einigen Jungs blöde Sprüche und Fragen zu hören, so zum Beispiel:,Was suchst du hier überhaupt?' oder,Guck dich doch woanders um!“

In den nichtasiatischen Gay-Communitys hat er ein anderes Problem: Immer wieder hat er die Erfahrung gemacht, dass ältere deutsche Schwule gezielt nach kleinen asiatischen Jungs suchen würden. „Mir wurden Angebote gemacht, etwa mich für 400 Euro eine Nacht lang von einem 50-jährigen Mann betatschen zu lassen. Ich habe natürlich abgelehnt, aber allein die Vorstellung erweckt in mir Ekelgefühle und Aversionen.“ Für sozial schwache Asiaten sei das jedoch häufig eine Alternative, an Geld zu kommen, weiß Thanh.

Die schwule Szene in der Stadt hat Vietnamesen noch nicht als Zielgruppe von Beratung ausgemacht. Infomaterial über Aids und Zeitschriften, die zur Meinungsbildung unter Schwulen beitragen, gebe es zwar in Türkisch und Russisch, weiß der Junge, aber nicht in seiner Muttersprache. In den Chaträumen begegnet Thanh vielen Landsleuten mit schlechten Deutschkenntnissen. Zu Beratungsangeboten würden die sich nicht trauen, weil sie sich damit als Schwule bekennen würden. Es sei deswegen bitternötig, so Thanh, im Internet Angebote in seiner Muttersprache zu entwickeln.

Das Interview mit Thanh ist Teil des Buchs „Heimat ist da, wo man verstanden wird – Junge VietnamesInnen in Deutschland“ von Uta Beth und Anja Tuckermann. 340 Seiten, 25 €. Das Buch erscheint in wenigen Tagen

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