Houellebecqs „Vernichten“ als Theater: Dunkel dräuendes Traumspiel

Sebastian Hartmann zeigt in Dresden Michel Houellebecqs „Vernichten“ als surrealistischen Alptraumparcours. Ent- und Begrenzung gehen Hand in Hand.

Totenwaschung des aufgebahrten Paul (Torsten Ranft), umgeben von Trauben und Granatäpfeln.

Bei der Totenwaschung des aufgebahrten Paul zitiert Sebastian Hartmann den Kollegen Peter Greenaway Foto: Sebastian Hoppe

Es ist von Anfang an ein Traum. Langsam wanken Gestalten in Ledermänteln über die Bühne, auf der ein kolossaler viereckiger Turm seine Runden dreht. Im Hintergrund gibt es ausgeschnittene schwarze Baumsilhouetten wie aus einem Schattenspiel, während über alldem eine wabernde Stimme, live begleitet am Klavier, Edgar Allan Poes Zeilen singt: „All that we see or seem is but a dream within a dream.“

Willkommen im neuen Stück von Sebastian Hartmann am Staatsschauspiel Dresden, der diesen Surrealismus wie eine Brechstange ansetzt, um Michel Houellebecqs Roman „Vernichten“ von 2022 auf der Bühne zu atomisieren.

Lediglich Molekülketten der uferlosen Familiengeschichte, die Houellebecq auf 620 Seiten ausbreitet, finden sich hier: die Krebserkrankung, Monologteile zu Pflege und Klassismus sowie Selbstbetrachtungen des Erzählers. Dafür erfasst die Inszenierung genau die dräuende Atmosphäre und suhlt sich genüsslich in ihr.

Die Krebsdiagnose, die Houelle­becq erst nach gut zwei Dritteln entblättert, steht hier ganz am Anfang. Da sprechen die nahezu unsichtbaren Schauspieler zu elektronisch droppenden Soundbits (Musik: Friederike Bernhardt) mit verzerrten Stimmen die medizinisch eskalierenden Texte von Arzt und Patient, in denen in Tumor- und Amputationsfantasien geschwelgt wird.

Dunkel wabern Sprachfetzen und Figuren durch den Raum, überlagert von Livevideos, die sich verdoppeln und verdreifachen, mal auf großem Gazevorhang vorne, mal auf dem kreisenden Turm oder auch nur im Hintergrund. Ein Albtraumritt, aber nicht voll effektvoll-gruseliger Schrecken – die gibt es auch, wenn etwa Moritz Lippisch in einem fulminanten Skorpion-Gestell (Kostüme: Adriana Braga Peretzki) über die Bühne klappert –, sondern es ist ein Grauen der Hoffnungslosigkeit, die durch alle Ritzen kriecht.

Performative Installation

Zugleich ist das Bühnenspiel enorm. Hartmann baut eine performative Installation, die sich eher an der bildenden denn der darstellenden Kunst orientiert. Die Schau­spie­le­r*in­nen werden reduziert zu Handlungselementen in diesem runden Zusammenwirken von Bühnentechnik, Licht (Lothar Baumgarte) und Video (Jan Speckenbach) und eben dem Schauspiel.

Eine ästhetische Hermetik, die an Hartmanns sechsstündiges „Das Buch der Unruhe“, ebenfalls am Staatsschauspiel Dresden, erinnert, das während der Pandemie eines der spannendsten Livestream-Experimente gewesen ist. Die dort erfundene Traumästhetik findet sich auf der Bühne wieder, etwa in den raschen Bedeutungswechseln, wenn die Livekamera verschiedene Räume bruchlos durchquert.

Da haben auch opulente Bilder wie die Trauerrede von Linda Pöppel mit gleichzeitiger, an Peter Greenaways Film „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“ erinnernde Totenwaschung des zwischen Trauben und Granatäpfeln aufgebahrten nackten Paul (Torsten Ranft) ihren Platz, während gleich danach Maschinengewehramokläufer das Bild bestimmen. Pöppel ist es auch, die gegen Ende des zweiten Teils zur Brandrede gegen die Gesellschaft und ihre Ignoranz ausholen darf.

Schwebender Zustand

Ist das noch Houellebecq? Irgendwie schon, denn herausgefiltert und kondensiert ergibt sich ein Amalgam der verstreuten gesellschaftspolitischen Anwürfe des Romans in einer Anklage, die es in sich hat. Ein Moment, in dem das Stück aus dem Meer des künstlerischen Schwelgens kurz an die Oberfläche steigt, um angestaute Realität auszuatmen.

Der dritte Teil beginnt als reines Schwelgen, wenn die 3-D-Animationen von Tilo Baumgärtel, der schon lange mit Hartmann zusammenarbeitet, über den Gazevorhang rauschen und das Publikum in einen schwebenden Zustand versetzen. Dass dazu das Publikum rot-grüne Brillen aufsetzen muss, um im Theater dreidimensionale Darstellungen zu erleben, ist dabei ein technologischer Treppenwitz.

In dieser Inszenierung schmelzen solche Technologiefragen der Abgrenzung zugunsten des grenzenlosen Gesamtausdrucks zu nichts zusammen. Am Ende dann das gemeinsame Aufwachen mit Klavier und Nadja Stübiger. Die Gegenwart erscheint nicht mehr ganz so trostlos wie der taumelnde Traum, der immerhin drei Stunden (plus Pausen) dauert.

So endet ein gewaltiger Abend, der staunen lässt und den Raum des Theaters weitet, weil er gleichzeitig so viel mehr und so viel weniger ist, als man vom ihm erwartet. Es ist, als hätte jemand das bildmächtige Theater des (frühen) Robert Wilson dekonstruiert und mit Verve runderneuert. Dieses Theater ist gleichermaßen gebändigt, denn für die sonst bei Hartmann typischen Improvisationsräume ist hier kein Platz, und entgrenzt, weil es konsequent alle Mauern zwischen den Genres einreißt und darüber hinweggeht. Ein wahres Träumchen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.