House-Produzent Kassem Mosse: Spediteur großer Gefühle

Niemand klingt hierzulande so visionär wie der Leipziger Elektronik-Produzent Kassem Mosse. Im Ausland schlägt sein Sound seit längerem Funken.

Wird in England und in Japan verehrt: Kassem Mosse. Bild: inga kerber/promo

„Ich kann einfach nicht streng sein, Strenge liegt mir nicht.“ Das sagt Kassem Mosse über die amtliche Berliner Klangästhetik, der seine eigene Soundsignatur nicht entspricht, obwohl er sie mag. Mosse ist der Produzent, der schon seit geraumer Zeit die visionärste elektronische Tanzmusik hierzulande veröffentlicht.

Es ist Sonntagnachmittag, die Nacht über hat der Leipziger im Berliner Club about: blank live gespielt, er wirkt trotzdem ausgeschlafen, in sich ruhend. Kassem Mosse überlegt genau, bevor er spricht. Treffpunkt war die Weltuhr am Alex, im Schatten des Fernsehturms nehmen wir einen Café zu uns. Nun, wo endlich das lang erwartete Debütalbum von Kassem Mosse erschienen ist, stellen sich vielleicht auch die hiesigen medialen Antennen auf seinen inzwischen imposanten Output ein. Und Kassem Mosse spürt seine Chance.

Liegt das mediale Schweigen daran, dass er fernab von institutioneller Unterstützung künstlerische Erfolge feiert? Dass er, anstatt sich an die selbstbequeme Hipsterhauptstadt Berlin anzubiedern, lieber ins Ausland schaut? Er ist der einzige Deutsche auf dem Label des Detroiter House-Produzenten Omar S, Lordsiegelbewahrer der Maschinenmusik made in Motown. Vergangenes Jahr hat Mosses Produktion für die Französin Stellar OM Source für Aufsehen gesorgt.

Zusammen mit seinem Kumpel Mix Mup hat Kassem Mosse auch bei Trilogy Tapes, der Zentralschaffe britischen Demiurgen-Tums ein Minialbum veröffentlicht. Überhaupt, in Großbritannien lieben sie den Leipziger. Im Londoner Plattenladen Honest Jons ist das Kassem-Mosse-Fach ein Schrein, zu dem Fans aus aller Welt pilgern. Zurzeit tourt Kassem Mosse auch durch Japan. Es ist bereits seine dritte Tour durch Nippon.

Kassem Mosse: „Workshop 19“ (Workshop/Hardwax)

Mosse-Tracks haben sich im Bermudadreieck zwischen Techno-Soul und Deep House von Formatzwängen freigeschwommen. Seine Musik ist zwar dem Dancefloor verpflichtet, aber er verliert nie den Blick für den größeren musikalischen Kosmos. Die Abfahrt und den Kick gibt es bei ihm nicht für lau. „Perfekte Straightness brauche ich nicht. Lieber gerate ich an meine Grenzen und spiele nicht so perfekt und breche damit den Flow auf.“ Mit Aussetzern, mit Störgeräuschen, Exkursionen in Richtung Ambient, oder, wie beim Auftakt zu seinem neuen Album, mit einem perlenden Fender-Rhodes-Motiv, das von synthetischen Beats wie eine Flipperkugel hin und her gestoßen wird, gelingt ihm dies immer wieder aufs Neue.

Die Kraft der Train Wrecks

„Train Wrecks“, nennt er diese Methode, Klangkollisionen. „Bei mir kommt die Musik an erster Stelle und die Technik an zweiter. Das geschieht nebenbei. Ich produziere ja nicht absichtlich Train Wrecks. Das ist ein Detroit-Ding, der Funk kommt immer vor der Aktualität einer Nummer. Damit werden Kontinuitäten aufgezeigt. Und wenn so ein Track reindroppt, das ist dann so ein Moment. Etwa, wenn man irgendwo steht und der DJ legt plötzlich „Don’t Go“ von Yazoo auf. Das ist viel interessanter, als der endlose Beat.“

Kassem Mosses Musik bleibt genau und klingt ruppig. Seine Synthie-Hooklines sind tiefenentspannt, stellen auf raffinierte Weise Hypnose her. In diesem Sound liegt mehr Drama und mehr Weltgeist, als es die Stammtischklischees von Teutonen-Sound zulassen wollen. Aus winzigen Melodiepartikeln und seltsamen Klangsplittern, wie dem Knarren eines Fensters, lässt er elektronische Emotionen entstehen und schiebt sie mit einer markant schnippenden Hi-Hat und einer pumpenden Bassdrum an.

Die muss nicht notwendigerweise schnell sein, die kann schleppen wie ein HipHop-Beat. Die kann aussetzen zugunsten von Outros, Stimmfetzen aus der Echokammer. Ja, natürlich gibt es Vorbilder, wie den Heidelberger Produzenten Move D oder die frühen Werke des britischen Labels Warp.

Alligator im Schlamm

Wie ein Alligator im Schlamm registriert Kassem Mosse auch die kleinste Erschütterung auf dem Dancefloor, aber er verlässt diesen eintönigen Jagdgrund immer wieder, um zu improvisieren. Nicht nur mit der Technik, und den Sounds, Kassem Mosse spielt auch mit den Zuschreibungen von House. „Ich versuche immer, mit den Zuhörern und Tänzern eine gemeinsame Ebene zu finden. Das heißt, irgendwas geht schief, und ich finde einen Weg, um die Situation zu retten. Solche Situationen gibt es oft, die sind sehr schön.“

Der Soul kam mit der Warehouse-Kultur nach Leipzig, erklärt Kassem Mosse: „Sozialisiert bin ich in einem technophilen Kollektiv. Es nannte sich Homo Elektrik. Eine randständige Szene, sie ist nicht spezifisch mit bestimmten Clubs assoziiert.“ In diesem unkommerziellen und queeren Kontext wurden seit Ende der Neunziger illegale Raves in Leipzig organisiert, man schleppte ein Soundsystem in ein leerstehendes Gebäude oder im Sommer auf Brachflächen, um Musik zu hören und zu feiern.

Kassem Mosse ist ein Pseudonym, abgeleitet von Kate Moss. „Verbirgt sich dahinter Kate oder Karsten? Es gab verschiedene Assoziationen, und es geht darum, Identitäten offen zu halten.“ Das Klandestine und Anonyme setzt sich in seiner Musik fort. Noch heute sind seine Tracks fast ausschließlich „Untitled“. Mosse will damit einen Zugang zu seiner Musik schaffen, der nicht von Interpretationen und Bedeutungen verstellt ist.

Fingerzeig an Soul

Ganz selten gibt er Hinweise, etwa, wenn er, wie auf dem Debütalbum, ein Zitat in die Auslaufrille einritzt: „Just because I tell you I love you, don’t mean that I do.“ Von Erykah Badu stammt es, „ein Fingerzeig auf Soul“, sagt Kassem Mosse. Auf einem seiner besten Tracks hat er das Wort „Sensuality“ gesampelt. Aber es hört sich ganz anders an. Natürlich weiß das Internet längst über alle Einzelheiten Bescheid, aber etwas ganz Entscheidendes ist dort nicht zu haben.

„Es gibt einen emotionalen Anteil, und der steckt in der Musik. Er wird nicht über das Äußere transportiert, sondern über die Haltung.“ Kassem Mosse ist ein Gefühlsspediteur, dem es gelingt, Klangelemente aus der House-Tradition in die reine, in die absolute Gegenwart zu transportieren. Auch deshalb ist sein Debüt ein erster Anwärter auf das Album des Jahres.

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