Hype um brutalistische Architektur: Brutalismus ist plötzlich in aller Munde
Vom Wandel der Rezeption von Architektur erzählt das Buch „Mäusebunker und Hygieneinstitut“. Herausgegeben hat es Architekturhistoriker Ludwig Heimbach.

Ist das Baukunst oder kann das weg? Im Falle des vom Berliner Volksmund sogenannten Mäusebunkers in Lichterfelde stand für viele Anwohnenden genau wie Lokalpolitiker noch vor ein paar Jahren fest: Diesen bizarr anmutenden, unförmigen und nach dem Auszug der Charité unnütz gewordenen Betonklotz wird kaum jemand vermissen, nachdem die Abrissbagger ihr Werk vollbracht haben.
Doch dann meldeten sich immer mehr Stimmen von Architekturhistorikern, die auf die Besonderheit, ja Einzigartigkeit dieses in den Siebzigern errichteten, skurrilen Bauwerks hinwiesen, das seit 2020 von niemandem mehr genutzt wird. Und seit zwei Jahren steht er nun unter Denkmalschutz, der Mäusebunker, der von der Freien Universität in den Achtzigern und Neunzigern als Laboratorium für wissenschaftliche Tierversuche genutzt wurde, bevor die Charité übernahm.
Man wird ihn also erhalten und möglichst einen sinnvollen Plan für eine Weiternutzung fassen müssen. Ideen gibt es bereits genügend, entwickelt in einem vom Landesdenkmalamt Berlin angeführten Modellverfahren. Doch bis hier wirklich ein neuer Ort für die Wissenschaft, die Kultur oder was auch immer entsteht, wird es noch Jahrzehnte dauern, das ist allen klar, die sich Gedanken über die Zukunft des Mäusebunkers machen.
Pralle Materialiensammlung
Einer derjenigen, die sich schon früh für den Erhalt der ehemaligen Forschungseinrichtung starkgemacht haben, ist der Berliner Architekt Ludwig Heimbach, der mit dem Buch „Mäusebunker und Hygieneinstitut. Eine Berliner Versuchsanordnung“ eine pralle Materialiensammlung zu allen nur erdenklichen Aspekten rund um das Gebäude herausgegeben hat.
Ludwig Heimbach (Hg.): „Mäusebunker und Hygieneinstitut.“ Jovis, 2025, 408 Seiten, 42 Euro
Dessen Baugeschichte wird genauso akribisch in dem mehr als 400 Seiten dicken Band dokumentiert wie das Ringen um dessen Erhalt. Dazu gibt es jede Menge Faksimiles historischer Bauskizzen und Fotos aus allen möglichen Perspektiven, die die architektonischen Besonderheiten des Gebäudes in Szene setzen.
Das Hygieneinstitut, das wie der Mäusebunker in den Siebzigern erbaut wurde und das sich in dessen unmittelbarer Nähe befindet, wird auch beleuchtet, aber der Star in diesem Buch ist ganz klar das ehemalige Tierversuchslabor. Dieses wurde errichtet als Funktionsbau dafür, dass unter Laborbedingungen Versuche an Tieren vorgenommen werden und sogar aufgezogen werden konnten.
Dazu gehörte ein spezielles Belüftungssystem mit Belüftungsrohren, die aus der Betonhaut des Gebäudes ragen und ein wenig so wirken wie Kanonen auf einem Kriegsschiff. Wer den Mäusebunker betrachtet, mag sich auch an ein Raumschiff auf Kampfmission aus einem Science-Fiction-Film erinnert fühlen.
Imposant und abweisend
Das Hygieneinstitut genau wie der Mäusebunker sind im Baustil des sogenannten Brutalismus errichtet worden. Dieser breitete sich ab den Fünfzigern weltweit aus und kam Ende der Siebziger langsam aus der Mode. Beim Brutalismus wurde bevorzugt mit sehr viel Sichtbeton gearbeitet, was den entsprechenden Architekturen etwas Mächtiges, Imposantes, aber auch als abweisend Empfundenes verlieh.
Brutalistische Bauten entstanden in einer Zeit, in der sich noch niemand groß Gedanken über die verheerende Umweltbilanz von Beton machte. Aus heutiger Sicht erinnern sie daran, wie man sich in den Sechzigern und Siebzigern, im „Space Age“, modernes Wohnen vorstellte, vielleicht nicht nur auf der Erde, sondern irgendwann auch auf dem Mars und anderen Planeten.
Dann folgte ab den Achtzigern die Gegenbewegung. Viele brutalistische Bauten wurden einfach abgerissen, anstatt sie durch Sanierungen zu erhalten. Der Hype, den der Brutalismus aktuell wiederum erfährt, war vor ein paar Jahren noch nicht abzusehen und bedeutet eine erneute Wende bei dessen Rezeption.
Ein Berliner Techno-Duo nennt sich Brutalismus 3000, und dass ein Film wie „The Brutalist“ über das Schicksal eines der Moderne verpflichteten Architekten bei den Oscars so abräumte, ist auch erstaunlich.
Brutalistische Bauten als Touristenattraktionen
Brutalismus ist plötzlich in aller Munde. In Berlin gibt es inzwischen öffentliche Führungen zum Thema; eine internationale Datenbank mit dem Hashtag „SOS Brutalismus“ erfasst weltweit in dem Stil errichtete Bauten, um sie besser schützen zu können. Und es gibt Reisende, die in bestimmten Städten kaum etwas anderes sehen wollen als die spektakulärsten brutalistischen Betonwunder.
Als absolute Nummer eins in Berlin gilt dabei der Mäusebunker. Schafft man es, diesen „Lost Place“, der er derzeit noch ist, in einen für die Stadtgesellschaft zugänglichen Ort zu transformieren, könnte dieser bald in allen Reiseführern gleich neben dem Brandenburger Tor auftauchen. Mit dem Buch von Ludwig Heimbach gibt es schon jetzt die passende Fan-Bibel dazu.
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