Im Gespräch: Lieben, was wir essen?

Welche Lebewesen streicheln, welche essen wir und warum? Richard David Precht über unser Verhältnis zu Tieren und Ernährung.

Ist gezüchtetes Fleisch eine echte Alternative zu gezüchtetem Tier? Bild: dpa

zeozwei: Herr Precht, für die meisten Menschen ist der Gedanke an Kannibalen, also Menschen, die Menschen essen, kaum erträglich. Dabei sind das ja auch nur Tiere, die andere Tiere fressen?

Richard David Precht: Nein. Auch manche Tierrechtler gehen in diese Falle, wenn sie sagen: Der Mensch ist ja auch nur ein Tier. Damit wäre er aus seinen moralischen Pflichten entbunden. Das ist nicht die Quintessenz meines Buches. Ich gebe mir sehr viel Mühe zu zeigen, dass der Mensch ein moralbegabtes Tier ist, dessen ganze Kultur auf dieser Moralbegabung basiert und dessen ganze Sensibilisierungsfähigkeit mit dieser Moralfähigkeit zu tun hat.

Mir geht es darum, dass man irgendwo eine willkürliche Grenze zieht, welche Lebewesen man streichelt und welche man isst.

Zunächst mal: Es gibt Tiere, die Tiere der eigenen Art essen, aber viele tun es nicht. Löwen, zum Beispiel. Die töten aber die Kinder ihrer Vorgänger als Rudelführer. Adler legen zwei Eier. Wer zuerst schlüpft, schmeißt das andere Ei oder den gerade Schlüpfenden aus dem Nest. Dass nennt man Kainismus. Das zweite Ei ist reine Reserve. Der Ältere weiß, dass seine Aufgabe darin besteht, das andere aus dem Nest zu räumen. Das ist ganz natürlich.

Wir halten es für natürlich, hochintelligente Schweine zu essen, Hunde als Kind-Ersatz zu beschäftigen, Fliegen zu klatschen, uns vor Ratten zu gruseln und Mäuse, mal so, mal so.

Unser Verhältnis zu Tieren wird weniger über Moral gesteuert, sondern hauptsächlich über Ästhetik. Etwa wenn ich die weiße Ratte auf meiner Schulter liebe und die graue Kanalratte töte. Es gibt nicht viele Leute hier, die Antilopen essen, in Kenia ist das völlig normal. Moralisch macht das keinen Unterschied gegenüber dem Essen von Reh. Känguru ist in Australien billiges Fleisch, hier fänden das viele komisch und würden es nicht essen. Das hat einen rein ästhetischen Grund. Die meisten entscheiden also nicht über die Leidensfähigkeit oder Bewusstseinsfähigkeit von Tieren, was sie essen. Es ist Kultur, Ästhetik, Tradition, Gewohnheit.

Gibt es heute eine neue Mensch-Tier-Beziehung?

Ja, die neue Mensch-Tier-Beziehung existiert. Aber eben nur in bestimmten Feldern, nicht in allen. In der Ernährung spielt sie eine Riesenrolle. Ich habe ein Buch geschrieben, in dem es auf gerade zwanzig Seiten um Ernährung geht. Und alle Journalisten fragen mich als Erstes nach meinen Essgewohnheiten aus.

Es geht darum, Sie als Fleischesser zu entlarven.

Es geht immer darum, es auf eine persönliche Ebene zu bringen. Im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen das Politische interessierte, interessiert heute das Private. Der Impuls der 68er hat sich radikal umgedreht. Deren Vorstellung war, dass das Private politisch ist, also eben auch wie man lebt. Heute ist auch das Politische privat.

Heißt?

Es gibt keine Ebene des Politischen mehr. Das Politische wird nur noch auf der Ebene von Like und Dislike privat wahrgenommen. Wir leben in einer Welt, die schon lange das politische Denken gar nicht mehr als existenziellen Bestandteil hat. Die Politik folgt weitgehend der Ökonomie. Und für uns soll Politik so sein, dass ich weiter gut leben kann. Also privates Interesse. Wir haben keinen Möglichkeitshorizont mehr.

Weltfleischverbrauch: 283 Millionen Tonnen im Jahr. Tendenz: Stark steigend.

 

Landfläche für Viehhaltung oder Viehfutter: 25 Prozent. Steigend.

 

Viehfutteranteil an der Weltgetreideernete: 33 Prozent.

 

Hungernde und unterernährte Menschen: 1 Milliarde.

 

Fleisch hat den Hauptanteil an den weltweiten Treibhausemissionen: Die Zahlen schwanken zwischen 18 und 51 Prozent.

 

Fleischverzehr des Deutschen: 60 Kilo im Jahr, davon knapp 40 Kilo Schwein.

 

Besserer Fleischverzehr: 15 Kilo im Jahr (300 Gramm in der Woche).

Auch Veganismus kann eine Art Rückzug in eine reine, aber private Welt sein.

Es ist bei Veganern so, dass nicht alle aufgrund tierethischer Überlegungen Veganer sind, einige wollen einfach nur fit sein oder sich gesund ernähren. Die Tierethik verschmilzt hier mit der neuen Religion der Ernährung.

Immer ist alles gleich eine Religion.

Wir haben drei Felder, in die sich die Religion verlagert hat, seit die Leute nicht mehr so an Gott glauben. Die Ernährung, die Gesundheit und die Liebe. Das sind die drei metaphysischen, sinnstiftenden Bereiche, in denen es um das Reine und das Wahre geht und in denen Fehler und Sünden vermieden werden müssen. Davon werden die Tiere langfristig profitieren.

Die derzeitige Realität ist, dass das Bewusstsein für Tierrechte und Erderhitzung parallel zur exzessiven Massentierhaltung steigt, also den Industriefleischimperien von Tönnies und anderen.

Sie sagen es: Die Massentierhaltung machen wir ja nicht. Wir machen auch keine Tierversuche. Sie würden ja auch nicht Henker werden wollen. Dennoch gab es über Tausende Jahre Henker in verschiedenen Kulturen. Und das ist ein bisschen ähnlich mit der Massentierhaltung. Das machen nur ganz wenige, hinter den Kulissen. Das wird heute allenfalls exzessiver betrieben, weil es einer ökonomischen Vernunft gehorcht, aber es ist nicht unsere Kultur. Es ist unsere Rechtsprechung, die das zulässt, und es sind Menschen, die zwar wissen, dass es das gibt, sich aber keine großen Gedanken darüber machen.

Es gibt keine politische Mehrheit gegen Massentierhaltung.

Weil wir das Leiden exterritorialisiert haben und verbergen. Wenn wir von nun an die Schlachthöfe und die Massentierhaltung in die Innenstädte verlegen würden, dann wäre damit kein Blumentopf mehr zu gewinnen, weil die Sensibilisierung der Menschen rasant vorangeschritten ist, regelrecht in einer Exponentialkurve. Vor zwanzig Jahren musste ich Menschen erklären, was ein Veganer ist. Das wussten neunundneunzig Prozent nicht.

Worauf wollen Sie hinaus?

Ich glaube, dass wir in einer Gesellschaft leben, die viel aufgeklärter, sensibler und gebildeter ist als je in der Geschichte der Menschheit. Solange wir Bedingungen von Wohlstand und Frieden haben, wird der Mensch sich weiter sensibilisieren. Das heißt: Nachdem wir entdeckt haben, dass Sklavenhaltung nicht so gut ist, Frauen auch Menschen sind und dass man Kinder nicht in Bergwerke schicken soll, jedenfalls bei uns nicht, ist es ein logischer nächster Schritt, dass man die Sensibilisierung ausweitet und sagt, wir wollen keine Affen quälen, keine Massentierhaltung, keine Küken schreddern, keine Pelztierfarmen.

Was kann die quantitative und qualitative Zunahme der Sensibilisierung für Tierrechte und Erderhitzung leisten?

Ich finde es gut, dass so viele Menschen jetzt solche Diskussionen führen. Das war vor zwanzig Jahren noch nicht so. Seit Beginn der Tierrechtsdiskussion ist der Fleischkonsum rückläufig. Aber die Massentierhaltung wird nicht durch Bewusstseinsänderung und Veganer abgeschafft, sondern durch das im Labor hergestellte Cultured Meat, Kulturfleisch. Es ist den Tönniesen dieser Welt egal, wie viele Veganer es in Deutschland gibt.

Ja?

Ja. Selbst wenn hier keiner mehr Fleisch essen würde, würde sich weder ihr Geschäftsmodell ändern noch die Menge. Dann ginge eben alles nach China, so billig wie Deutschland heute Fleisch produziert. Nein, deren Geschäftsmodell ist bedroht durch Kulturfleisch. Das ist nicht nur ethisch besser, sondern wird irgendwann billiger sein. Das ist dann das Ende der Massentierhaltung.

Kann wirklich nur der Kapitalismus Tierwohl und Klimaschutz voranbringen?

Nein. Es wird eine Mischung aus beidem sein. Entscheidend wird die Umstellung vom gezüchteten Tier zum gezüchteten Fleisch. Aber die Bewegung weg vom Tierfleisch durch die zunehmende Zahl an Veganern und Vegetariern kann ein Beschleuniger dieses Prozesses sein. Ich glaube, dass sich das langfristig auch über die Kinder rauswächst.

Aber wo derzeit ein Veganer ist, sind Dutzende Fleischesser, die ihre privaten Gepflogenheiten verteidigen – auch gegen politische Einmischung. So war es bei der Aufregung über einen Veggieday in Kantinen.

Die Zustimmung für einen Veggieday steigt genauso wie für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das Problem im letzten Jahr war, dass es von den falschen Leuten falsch kommuniziert wurde, so wehleidig.

Des Menschen treuester Freund? Unser Verhältnis zu Tieren ist oft ästhetisch und nicht moralisch begründet Bild: dpa

Die Grünen sind die falschen Leute?

Die Grünen haben das so blöd vorgeschlagen, das klang nicht schmackhaft. Es läuft immer gleich bei den Grünen. Egal, ob Vermögenssteuer oder Veggieday. Man greift etwas auf, das in der Luft liegt, und bringt es in eine harmlos kondensierte Form, um zu beweisen, dass man einen sozial-revolutionären Impuls hat. Aber am Ende ist das immer nur Schminke, Tünche. Die Grünen haben es nicht geschafft, aus der Massentierhaltung auszusteigen. Sie haben es nicht einmal ernsthaft versucht.

Sie sagen, sie wollen es.

Ja, ja. Und wenn jemand den Atomausstieg macht, dann ist das Merkel. Ich habe schon Ende der 90er vorgeschlagen, die Grünen aufzulösen und das Geld den NGOs zuzuschlagen. Das wäre politisch viel effektiver. Die Grünen haben ja politisch kaum was erreicht. Sie nähren sogar die gefährliche Illusion, dass wir so weiter wirtschaften dürfen wie bisher, nur halt mit Energiesparhäusern und anderen Glühbirnen …

Ich gebe Ihnen recht, dass die Grünen überschätzen, was sie vorangebracht haben, aber ...

Okay, die Hemmschwelle, dass die Bundeswehr wieder Kampfeinsätze im Ausland macht, die haben sie aufgehoben. Das wäre gegen die Grünen nicht machbar gewesen. Das ist das historische Ding, das von den Grünen bleibt – leider!

Sie sind ja ein Hardcore-Linker.

Ich würde mich weder links noch rechts sehen. Ich glaube überhaupt nicht, dass diese Schematisierung noch irgendwie taugt, um zu beschreiben, was jetzt auf die Gesellschaft zukommt.

Können Sie das an einem Bereich durchargumentieren?

Eben Kultur- oder Laborfleisch. Angesichts des ökologischen und ethischen Desasters der Massentierhaltung finde ich die Vorstellung sehr positiv, einer Kuh eine Nackenmuskel-Stammzelle zu entnehmen, sie in der Petrischale zu vermehren und daraus einen Burger herzustellen. Es ist die Lösung eines Menschheitsproblems. Richtig ist, dass immer noch ab und zu ein paar Kälber getötet werden müssen für das Kälberserum als Nährlösung, und dass man es nicht sofort günstig auf den Markt bringen kann. Letzteres lässt sich vermutlich in überschaubarem Zeitrahmen lösen. Das habe ich vor ein paar Tagen in zwei Diskussionen ausgeführt und plötzlich hatte ich die linken Ökologen als radikale Feinde.

Sie waren der Böse.

Da war ich so was von der Böse. Erste Argumentation: Alles, was den Planeten zerstört, ist eine Folge der Technik. Mit Technik kann man den Planeten nicht besser machen. Dann fragte ein Mensch vom BUND, ob ich den Massai jetzt verbieten wollte, Rinder zu halten. Es wurde ein impressionistisches Feuerwerk wirrer Argumentationen.

Was ist Ihre Position?

Technik ist nicht böse. Die Frage ist: Wer macht was mit was? Ich bin gegen grüne Gentechnik, aber nicht religiös, sondern wegen der ökologischen und auch der ökonomischen Folgen, der Entstehung von Saatgutmonopolisten etc. Ich bin auch gegen embryonale Stammzellenforschung, aber nicht gegen adulte für Gentherapie, das halte ich für einen Segen der Menschheit. Und beim Kulturfleisch muss ich das mit den Umweltdesastern und den ethischen Verbrechen der Massentierhaltung vergleichen und fragen: Was ist besser? Im Übrigen: Wenn wir nicht rechtzeitig auf den Zug aufspringen, dann patentieren sich Facebook und Google ihre Verfahren und dann kriegen wir die Diktatur weniger Firmen über die fleischliche Ernährung der Welt.

Auch noch.

Ja, Google-Gründer Sergey Brin und auch PayPal-Gründer Peter Thiel investieren in Kulturfleisch und was sie im Digitalen hingekriegt haben, könnten sie auch in der Ernährung wollen. Es geht darum, dass das nicht passiert. Aber stattdessen bekreuzigen sich die Ökos vor der Gentechnik und denken, der Precht ist irgendein übler Lobbyist. Das ist das Schöne an den Linken: Sie wissen immer, wogegen sie sind. Aber sie haben nichts mehr, wofür sie sind. Nichts jedenfalls, was operativ wäre.

Ich kann nicht widersprechen.

Die Rechten waren nie utopiefähig. Von den Nazis mal abgesehen – falls Utopie hier das richtige Wort ist. Die Konservativen waren es nie, weil deren Paradies immer in der Vergangenheit liegt. Jetzt warnen die Linken nur noch vor der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft. Das ist ein enormer Verlust an Utopiefähigkeit für die Gesellschaft. Ich habe eine Sendung mit Sahra Wagenknecht gemacht ...

... der Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei ...

... und mir wurde klar, Wagenknecht will nicht in die Zukunft, sie will zurück in die 70er Jahre. Als wir über Digitalisierung redeten, bekreuzigte sie sich sinngemäß. Dass der Herr Precht einen Marxismus 2.0 erträumte, in dem der alte Gegensatz zwischen Produktivkräften und Produktionsmitteln aufgehoben ist, konnte sie nicht ansatzweise sehen. Sie sah nur die bösen Silicon-Valley-Konzerne. Die sehe ich auch, aber ich sehe auch das Potenzial, das in dieser Entwicklung steckt.

Was sagt Ihnen das für den kommenden Bundestagswahlkampf?

Wissen Sie noch, was das wichtigste Thema im letzten Wahlkampf war?

Die Maut.

Richtig. Die Ausländermaut. Wenn das nicht Verarschung hoch zehn war. Das ist schon alles erschreckend. Digitalisierung und Globalisierung sind die größte Gestaltungsherausforderung: Beide werden keine Rolle im Wahlkampf spielen. Europa wird sowieso keine Rolle spielen, weil keiner eine politische Vision von Europa hat.

Sie sehen die Lage so ernst?

Wir leben in einer gesellschaftlich revolutionären Zeit, die sich vergleichen lässt mit der ersten industriellen Revolution, als aus einem Agrarstaat ein Land von Lohnarbeitern wurde. Jetzt leben wir in einer Revolution, in der die ganzen Lohnarbeiter ihre Arbeit verlieren. Die Einfluss auf die Sozialsysteme hat, die Psyche, die Art des Zusammenlebens, darauf, wie wir im Alter gepflegt werden. Auf alles. Das ist ein unglaublicher bedeutsamer, historischer Vorgang, aber das wird nirgendwo politisch bearbeitet. Es gibt keine Zuständigen für diese Problematik.

Der neue US-Präsident Donald Trump ist nicht der einzige regressive Politiker?

Noch lebt Trump in der Illusion, dass Protektionismus Arbeitsplätze erhalten kann. TTIP ist den Amerikanern ja vergleichsweise egal. Denen geht es um das Asien-Abkommen, weil in Asien billiger produziert wird als in den USA. Die Angst davor, das ganze Unbehagen, das sich da bei den Leuten artikuliert, die Trump gewählt haben, ist vollkommen verständlich. Ich sage nicht, dass die Leute mit jedem Ressentiment recht haben. Aber sie merken, dass das Ganze komplett in die falsche Richtung läuft.

Sie sind auch gegen den TTIP-Freihandel.

Unter anderem, weil damit die Massentierhaltung, wie sie jetzt existiert, mehr oder weniger vertraglich festgezurrt wird. Dass man Schrauben normiert, kein Problem. Aber: Kein Vertrag da, wo das Primat der ökonomischen Vernunft viele unzufriedene Menschen in moralischer Hinsicht produziert, weil diese ökonomische Vernunft ethischen Fortschritt aufhält. Deshalb ist mein Vorschlag: TTIP für Bereiche, die ethisch nicht sensibel sind. Aber nicht für Gesundheit, Umwelt, Tierschutz. Aber das will man nicht, weil die USA ja mit ihrem günstig hergestellten Fleisch auf unseren Markt wollen.

Die Grundsatzfrage lautet, ob die komplexen globalisierten Probleme überhaupt mit einer sozialökologischen Dimension zu lösen sind. Oder ist das eine Illusion?

Ich denke, dass wir Crashs kriegen und hoffe, sie sind nicht zu groß – und nicht zu klein.

Nicht zu klein, weil nur Katastrophen aufwecken?

Ja, wenn die Crashs zu klein sind, bleibt es bei business as usual. Nehmen Sie die Finanzkrise: Alles, was hochgefährlich ist an Börsen, besteht ja weiter.

Diese Art von Katastrophismus-Erlösungssehnsucht ist auch nicht gerade ethisch.

Der Mann: bekanntester Philosoph Deutschlands. 1964 in Solingen geboren. Wuchs mit vier Geschwistern in sehr politischem Milieu auf. Eltern 68er. Studierte Philosophie, Promotion in Germanistik. Honorarprofessuren in Lüneburg und Berlin.

 

Das Werk: Sein bisher größter Erfolg ist das populärwissenschaftliche Philosophiebuch Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? (2007). In Anna, die Schule und der liebe Gott (2013) wirbt er für eine neue Schule und neues Lernen. In seinem neuesten Buch Tiere denken (2016) denkt er eine Ethik weiter, die er schon 1997 in Noahs Erbe: Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen skizziert hat.

 

Das zeozwei-Gespräch fand in Düsseldorf in der Gaststätte »K« statt. Um die Ecke ist das Polizeipräsidium, vor dem Anja Weber und Precht an Fotos arbeiteten – bis sie von der Polizei als verdächtige Subjekte identifiziert und kontrolliert wurden.

(Foto: Anja Weber)

Der ethische Fortschritt ist leider an Katastrophen gebunden. Ohne starke emotionale Erschütterung denkt keiner um. Die Deutschen haben zwei Weltkriege gebraucht, um eine halbwegs funktionierende Demokratie hinzukriegen. Die nächste Epidemie-Katastrophe für die Tiere wird eine andere Diskussion über Legebatterien auslösen, aber mit TTIP können wir das dann nicht mehr ändern.

Sie haben in Ihrem Buch ein schönes moralisches Dilemma. Ein Vegetarier wird vor die Wahl gestellt: Essen Sie dieses Huhn, sonst töte ich noch ein Huhn. Sie sagen, das Huhn nicht zu essen, entspricht dem Zeitgeist. Warum?

Ich esse das Huhn nicht, weil ich rein sein will – das ist Gesinnungsethik. Der Verantwortungsethiker muss sagen: Ich esse das Huhn, um Schlimmeres zu verhindern. Das mag eine Unterstellung sein, aber ich nehme an, der größte Teil der Veganer handelt aus der ersten Motivation, jedenfalls im Zweifel.

Die zwei Positionen markieren die Zerrissenheit der linksliberalen und grünen Milieus. Selbst sauber bleiben, um den Preis des Raushaltens aus der Welt. Und Einlassen auf eine schmutzige Realität, um das kleinere Übel durchzusetzen.

Meine Überzeugung ist, dass die Gesinnungsethik maßlos gegenüber der Verantwortungsethik überschätzt wird. Das ist das Erbe des alten Griechentums, das die Verantwortungsethik nicht kannte. Die ganze Moralphilosophie des alten Griechenland ist immer die Utopie des sittlich guten Lebens für den Einzelnen in der Hoffnung, dass möglichst viele ein sittlich gutes Leben führen. Die Neuzeit beginnt mit Verträgen, in der Hoffnung, einen gemeinsamen Nenner zu finden, um eine Gemeinschaft aufzubauen. Das ist die Wende zur Verantwortungsethik, die im 17. Jahrhundert mit Hobbes und Locke eintritt.

Sie sind also Verantwortungsethiker?

Ich finde die Verantwortungsethik wichtiger, als dass möglichst viele Menschen versuchen, Heilige zu werden. Das hat die nicht hilfreiche Konsequenz, dass diese Heiligen die Nichtheiligen verachten und durch diese Verachtung kommen die nicht auf die Idee, ihr Leben zu ändern. Ich sage manchmal in Interviews extra, dass ich gelegentlich Fleisch esse.

Tun Sie nicht?

Ich esse äußerst gelegentlich Fleisch. Aber ich würde es im Zweifelsfall nur deswegen noch tun, um die Leute, die es auch gelegentlich tun, dort abzuholen, wo sie stehen. Das ist eine Argumentation, die dem Fundamentalismus fremd ist. Es gibt zwei Gruppierungen, die mich seit Erscheinen meines Buches im Internet massiv anfeinden. Die Jäger und die Veganer.

Warum die Veganer und was sagt Ihnen das?

Für viele Veganer ist es – leider – wichtig, sich besser als andere zu fühlen. Deshalb gibt es für sie nur gut und schlecht und nicht gut, besser, am besten. Wenn jemand wie ich mit einer schrittweisen Ethik kommt, um möglichst viele Menschen zu überzeugen, passe ich nicht ins Schema und bin folglich ein Heuchler.

Und die Massentierhalter?

Die Massentierhalter melden sich nie zu Wort, weil die froh sind, wenn man nicht über sie redet. Die Jäger gehen sofort in die Offensive. Ich bin mit Adolf Hitler verglichen worden, weil ich sage: Wenn wir Wildbestand regulieren müssen, dann müsste das vom Förster übernommen werden und nicht von Leuten, die für das Töten bezahlen. Dann sagte ein Lobbyist der Jäger, den Vorschlag habe Adolf Hitler auch gemacht. Ich wusste bisher nur, dass Hitler gerne Tortellini aß, das steht bei Albert Speer. Also seien Sie vorsichtig, wenn Sie Tortellini essen.

Das Interview führte PETER UNFRIED, Co-Chefredakteur der zeozwei. Es ist erschienen in zeozwei 1/17. Gerne können Sie den Artikel auf unserer Facebook-Seite diskutieren.