Indianerleben in Kolumbien: „Singen, um nicht zu sterben“

Besuch eines indianischen Kulturkongresses im kolumbianischen Urwald. Eintöniger Singsang, statt langweiliger Reden.

Die Rituale der Tule Indianer. Bild: Thomas Pampuch

Der „congreso de la cultura“ der Tule-Indianer beginnt morgens um 8 Uhr in einer „casa grande“. Gastgeber sind die kolumbianischen Tule von Caiman Nuevo am Golf von Urabá im Norden Kolumbiens. Hier, an der Küstenstraße zwischen Turbo und Necoclí, wo ihr „resguardo“ (indianisches Territorium) liegt, hat vor 20 Jahren der berühmte Drogenbaron des Medellinkartells, Pablo Escobar, Vieh gezüchtet.

Der Versammlungsort liegt mitten im Urwald, etwa eineinhalb Stunden Fußmarsch von der Küste landeinwärts. Der Weg führt über Dschungelpfade, manchmal durch tiefen Schlamm. Zweimal müssen Flüsse durchwatet werden. Abadio Green, einer der Gastgeber des Kongresses, stapft mit Gummistiefeln voran. „Hier lang, compañeros!“ Er kennt den Weg und er kennt auch fast jeden der Delegierten, die zum Teil von weither kommen.

Die Abgesandten aus Panama etwa sind vor ein paar Tagen mit langen, furchterregend schmalen Booten über den Golf gekommen - pro Boot bis zu 40 Leute, dicht aneinandergedrängt, mehr als 10 Stunden Fahrt. Jetzt sitzen sie in dem rund 50 Meter langen, mit Palmenblättern gedeckten Langhaus auf harten Holzbänken und warten auf den ersten „canto“ (Gesang). Die Männer sind schmucklos angezogen. Die Wichtigeren haben eine Krawatte umgebunden.

Abadio Green Stocel (54) wuchs in Panama in einer Comunidad der Tules auf. Er studierte in Medellín Philosophie und Theologie. Daneben engagierte er sich in der Onic (Nationale Organisation der Indigenen Kolumbiens), deren Präsident er wurde. 1989 heiratete er die Tochter eines seiner Tule-Lehrer. Seit Jahren leitet Abadio ein Projekt der Universität von Antioquia in Medellín, die "padagogía de la madre tierra" (Pädagogik der Mutter Erde).

Tournee: Seit 2010 reist Abadio zwei Mal im Jahr mit der "Grupo Sal", einer Latinoband aus Tübingen, mit einem "Konzert für Amazonien" durch Deutschland. Dabei stellt er die Kultur der Tule vor und diskutiert über Perspektiven der Rettung des Regenwaldes. (Die nächste Tournee findet vom 19. 9. bis 30. 9. 2012 statt. Orte und Termine unter www.grupo-sal.de.)

Die Tule gehören zu der Ethnie der Kuna, eines indigenen Volkes von insgesamt ca. 70.000 Menschen, das an der Atlantikküste von Panama sowie am Golf von Urabà in Kolumbien lebt. Die kolumbianischen Tule zählen um die 2.000 Menschen und verfügen seit 20 Jahren über ein eigenes Territorium von ca. 10.000 Hektar, das ihnen nach langen Kämpfen und Verhandlungen zugesprochen wurde

Die Frauen und Mädchen in ihren verzierten Blusen und Wickelröcken haben sich sorgsam geschminkt. Sie reichen kakaohaltige Getränke. Es gibt eine klare Sitzordnung: im hinteren Teil sitzen die Frauen, im vorderen die Männer. Dazwischen schaukeln, breitbeinig in sieben Hängematten sitzend, die „sailas“, die Sänger. Sie sind die traditionellen, politischen und religiösen Autoritäten der Tule. Vier Tage lang werden diese Sailas - etwa 70 sind gekommen - ihre Gesänge zelebrieren. Die „cantos“ sind Rückgrat und Herzstück des Kulturkongresses wie überhaupt der Kultur der Tule. An diesem ersten Tag singen sie - unterbrochen nur vom Mittagessen - bis um vier Uhr.

Abadio trägt einen schönes helles Baumwollhemd und weiße Hosen. Er ist hier ein Mitglied des Stammes, doch als Indianerführer, Hochschullehrer und wichtigster indianischer Pädagoge in Kolumbien repräsentiert er die Verbindung zur Politik und zur Welt draußen. Für ihn sind die Rituale hier im Urwald wichtiger, wenn nicht entscheidender Teil des Überlebens: „Wir müssen wissen, wer wir sind. Diese Texte sind seit Jahrhunderten fixiert und werden nur durch orale Tradition weitergegeben.“

Jedes Volk braucht seine Legenden, seine Traditionen, seine Rituale und seine Sprache. „Die Sprache erlaubt es, die Geschichte deines Volkes zu verstehen. Ohne unsere Kultur würden wir untergehen. Ein Volk, das seine Rituale verliert, ist ein Volk, das stirbt.“ Als ehemaliger Führer der Indigenen von ganz Kolumbien kennt Abadio die Probleme von indianischen Völkern, die ihre Traditionen verloren haben. So merkwürdig es klingen mag: die „cantos“, die da von ein paar alten Männern jedes halbe Jahr im Dschungel gesungen werden, scheinen wesentlich dazu beizutragen, dass die Tule weder verelenden noch ihren Kampfgeist verlieren - wie so viele andere Indigene Kolumbiens.

Die Gesänge sind langgezogen, repetitiv und nicht besonders melodiös. Immer wieder fallen andere Sailas in den Vortrag des jeweiligen Hauptsängers mit ein - oft mit einem schrillen „eje“ - Ja! Trotz dieser fast dissonanten Tonfolgen stellt sich bei den meisten bald eine meditative Stimmung ein. An die 300 Zuhörer sitzen stundenlang versunken auf ihren Bänken. Dabei sind die Gesänge für die Tule von heute oft schwer zu verstehen.

„Jedes Volk braucht seine Legenden, seine Traditionen, seine Rituale und seine Sprache“. Bild: Thomas Pampuch

Deshalb treten zwischen den Sailas immer wieder die „argales“ (Sprecher) auf. Sie interpretierten die Gesänge in volkstümlichem Tule. Es sind allgemeine Bemerkungen zur Moral, aber auch zum Klimawandel, zur Zerstörung der Natur und Ermahnungen: „Die Natur bestraft die Egoisten!“ „Die Alten müssen gut behandelt werden. Sie sind die Weisheit und die Tradition, so wie die Babys die Zukunft sind!“

Immer wieder geht es um den Raubbau an den Ressourcen. „Den empfinden wir Tule, als vergieße man das Blut der Mutter Erde“, erklärt Abadio. „Deshalb wird es demnächst große Proteste gegen ein Abkommen geben, das der kolumbianische Präsident Santos mit Südkorea abgeschlossen hat.“ Auf dem Resguardo der Tule soll Kohle gefördert werden.

Am folgenden Tag empfangen die Tule Gäste aus der Nachbarschaft. Bürgermeister und Militärs sind in einen Schulhof an der Küstenstraße eingeladen. Es gibt ein Kulturprogramm mit den typischen Tänzen. Die entbehren für Außenstehende nicht einer fröhlichen und doch meditativen Komik: Die Tänzer hüpfen von einem Bein auf das andere, blasen dazu die Panflöte und bewegen sich mit den tänzelnden Frauen in bestimmen Formationen. Die Sailas sitzen im Schatten und halten ihre „bastones“ (Holz-Szepter). Abadio begrüßt alle und formuliert dann sein Credo: „Wenn wir aufhören zu glauben, werden wir verschwinden. Solange wir glauben, werden wir das Land nicht verlieren und es verteidigen!“

Es ist eine kämpferische Rede - für europäische Ohren vielleicht etwas viel Blut und Boden. Doch aus dem Munde des Sprechers eines kleinen bedrohten Volkes klingt es plötzlich ganz verständlich und gar nicht chauvinistisch. Am Schluss spricht der örtliche Militärkommandant - zweimal so dick und so groß wie die Caciquen, mit denen er sich leutselig fotografieren lässt. Er betont, dass das Militär „ allzeit zum Schutz der Indigenas bereit“ stünde. Dann lässt er sich noch einmal fotografieren und rauscht ab.

Immerhin, so berichtet Abadio, habe man in den letzten Jahren ein halbwegs passables Verhältnis zu den Militärs gefunden. „Wir Tule müssen mit allen uns bedrohenden Gruppen irgendwie klarkommen.“ Und sie reden auch mit allen. Mit keinem allerdings zu vertraut, weil das dann wieder die jeweils anderen - Guerilla, Paramilitares, Bananenpflanzer etc. ärgern könnte. Es ist ein Drahtseilakt.

Genau um diese Fragen geht es am vierten und letzten Tag, dem der politischen Debatten. Im Langhaus wird Abadios in Tule vorgetragene Rede nun mit großem Interesse verfolgt und dann den ganzen Nachmittag über diskutiert. Die Tule spielen - trotz ihrer geringen Zahl - eine Vorreiterrolle in der Indigenenbewegung Kolumbiens: Immer wieder bedrohen Großprojekte ihre Territorien: „Es könnte eine menschliche und kulturelle Katastrophe werden!“, mahnt Abadio. „Wir müssen der Welt sagen, dass wir noch leben und mit einer Stimme sprechen. Und dass wir uns wehren werden!“

Am Abend fährt Abadio in einer 11-stündigen Busreise zurück nach Medellin, seinen zweiten Wohnsitz. Bald wird er für die Tournee „Konzert für Amazonien“ nach Deutschland fliegen. „Selbstbewusstsein ist die Voraussetzung für ein Zusammenleben mit anderen Kulturen“, sagt er. „Darum singen wir.“

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