Indigene in Suriname: Die neue Kolonialisierung
Im kleinsten Land Südamerikas bedrohen Gold- und Holzfirmen die indigene Bevölkerung. Zwei Aktivistinnen wollen sich davon nicht einschüchtern lassen.
„Das ist der Preis, den wir zahlen müssen, wenn wir für unsere Rechte einstehen“, rief eine Mutter bei der Beerdigung ihres Sohnes. Ihr Schrei ging damals vielen unter die Haut. Die indigene Bevölkerung in Suriname wie auch die Maroons, Nachfahren geflohener Sklaven, hat bis heute keine kollektiven Landrechte.

Der Text ist im Rahmen des Klimaworkshops Green Panter Amazonia der taz Panter Stiftung entstanden. Mehr Texte der Teilnehmenden aus 8 Ländern der Amazonas-Region auf taz.de. Weitere ihrer Artikel erscheinen am 12. 9. in einer taz-Beilage, am 17. 9. gibt es einen Talk mit ihnen in der taz Kantine.
Suriname ist das einzige Land Südamerikas, das solche Rechte nicht gesetzlich anerkennt. Generationen leben auf ihrem traditionellen Land in Amazonien, doch sie können jederzeit vertrieben werden. Ohne Mitsprache, ohne Entschädigung. Vom Reichtum der Holz- oder Goldkonzessionen sehen sie keinen Cent. Stattdessen verschmutzen Quecksilber und andere Chemikalien ihr Land. Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Strom oder sauberem Trinkwasser? Oft nicht vorhanden.
Charmaine Artist ist 35 Jahre alt und stammt aus einer Region, rund 50 Kilometer vom Ort der Proteste entfernt. Sie nennt sich selbst „Erdverteidigerin“. Gerade hat sie ein Trainingsprogramm über grüne Energien in indigenen Dörfern abgeschlossen. Und sie will nicht mehr tatenlos zusehen, wie ihre Kultur und Identität langsam verschwinden.
Mehr als 90 Prozent von Wald bedeckt
„Unsere Identität gibt uns eine spirituelle Verbindung zur Natur und zur Erde“, sagt sie. Diese Verbundenheit hat mit dazu beigetragen, dass Suriname heute noch zu über 90 Prozent von Wald bedeckt ist. Umso schmerzlicher sei es, dass die Männer, die sich im Mai 2023 für ihre Rechte eingesetzt hatten, zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurden. An ihrer prekären Lage habe sich nichts verändert.
Für Artist beginnt das Unrecht mit der Kolonialisierung Surinames im Jahr 1667 durch die Niederlande. Die indigene Bevölkerung wurde versklavt, in die Wälder getrieben, viele starben an eingeschleppten Krankheiten. Auch nach der Unabhängigkeit 1975 blieben die Rechte der Indigenen unberücksichtigt. 1976 marschierten sie in einem viertägigen Protestmarsch 145 Kilometer bis nach Paramaribo – ohne Erfolg. Genauso wie beim „Aufstand“ im Jahr 2023 änderte sich nichts.
Artist nennt das heute eine neue Form der Kolonisierung. „Es sind nicht mehr die Weißen, die unser Land unbewohnbar machen, sondern Konzerne, Kapital, großes Geld.“
Über die internationale NGO Conservation International nahm Artist am „Amazonia Indigenous Women’s Fellowship Program“ teil. In dem Dorf Powakka führte sie biohydroponischen Anbau ein, eine umweltfreundliche, klimaresiliente Landwirtschaftsmethode. Ihr Projekt vernetzt inzwischen indigene Jugendliche in ganz Suriname. „Gemeinsam suchen wir nach Lösungen für neue Herausforderungen wie den Klimawandel“, sagt sie.
Starre Geschlechterrollen
Auch Jupta Itoewaki, 37, kämpft an vorderster Front. Sie gründete die Mulokot-Stiftung und wirkt ganz anders als das zurückhaltende Bild vieler Indigener: scharfer Blick, schnelle Worte, klare Haltung. Sie stammt aus dem Wayana-Dorf Kawemhakan, tief im Südosten des Landes. Drei Tage dauert die Reise per Boot, ein Flug etwa eine Stunde.
Schon früh wusste sie, dass sie eine besondere Rolle spielen würde. „Als die Kirche in unser Dorf kam, wurden die Geschlechterrollen noch starrer: Jungs sollten Chancen bekommen, Mädchen Kinder.“ Ihre Großmutter hatte einen Traum: dass nicht ein Junge, sondern ihre Enkelin zur Schule nach Paramaribo gehen solle.
Nach ihrem Studium arbeitete sie bei einer NGO, die sich für indigene Rechte einsetzte. Doch bald merkte sie: „Nach all den Schulungen hatte noch immer kein einziger Indigener eine Führungsposition.“ Und obwohl die Indigenen den Wald schützen sollten, durften sie nicht mehr wie früher jagen. „Ich konnte das nicht mehr mittragen.“
Nach UN-Schulungen und Netzwerkprogrammen ist die Mulokot-Stiftung heute ein anerkannter Partner der Regierung. Doch die Herausforderungen bleiben. Die Region ist reich an Gold, aber es fehlt an Infrastruktur. „Schauen Sie sich an, wie viele Goldkonzessionen auf unserem Gebiet vergeben wurden, ohne unsere Zustimmung“, sagt sie und zeigt auf ihren Laptop.
Der Klimawandel erschwert alles
Itoewaki wirkt angespannt, als sie erzählt, dass der Fluss, den ihre Gemeinschaft seit Generationen nutzt, heute durch Quecksilber verseucht ist. „Deshalb haben wir mit Fischzucht begonnen, für gesunde Ernährung.“ Doch das Projekt wurde aus Geldmangel gestoppt. Mithilfe von Spenden konnte die Stiftung eine eigene Dorfschule gründen. „Dort lernen Kinder nicht nur Sprache und Mathe, sondern auch ihre Kultur“, erklärt sie. Doch staatliche Unterstützung bleibt aus. „Sie wollen, dass wir denselben Lehrplan wie in Paramaribo umsetzen. Das funktioniert im Landesinneren aber nicht.“
Arbeitslosigkeit, fehlende Akzeptanz ihrer Lebensweise, Umweltzerstörung, das alles bedroht das soziale Gefüge. „Alkoholismus, häusliche Gewalt und schlechte Gesundheitsversorgung sind direkte Folgen“, sagt Itoewaki. Der Klimawandel erschwert alles zusätzlich. „Aber wir sind so sehr damit beschäftigt, für unser Recht auf Existenz zu kämpfen, dass kaum Zeit bleibt, uns um die Folgen des Klimawandels zu kümmern.“
Bei extremen Regenfällen oder Dürren ruft Mulokot regelmäßig die Öffentlichkeit zur Hilfe auf. „Früher konnten wir die Zeichen der Natur lesen, wussten, wann wir säen und ernten. Doch der Klimawandel löscht diese Zeichen aus.“ Trotz aller Herausforderungen bleiben Artist und Itoewaki optimistisch. Sie wollen weiter für eine gerechtere Zukunft kämpfen.

Euritha Tan A Way ist eine Journalistin aus Suriname und arbeitet für die Tageszeitung „De Ware Tijd“.
Übersetzt aus dem Englischen von Niklas Franzen
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