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Indonesien und WestpapuaEine neue Geschichte wagen

Kommentar von Johanes Wato

Indonesiens Präsident will die Landesgeschichte neu schreiben lassen. Die indigenen Papuaner müssen mitwirken, sonst bleibt es ein Monolog der Macht.

Viele Gemeinden von Papua haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, das Bildungs- und Gesundheitssystem ist unterversorgt Foto: Alexander Lang/imago

A m 27. Mai 2025 ließ Präsident Prabowo Subianto ein nationales Projekt zur Neuschreibung der indonesischen Geschichte ankündigen. Über 120 His­to­ri­ke­r*in­nen sollen eine zehnbändige Gesamterzählung verfassen – von der Urgeschichte bis zur Reformära. Das Vorhaben gilt als Versuch, eine ehrlichere, integrativere und dezentralere Erinnerungskultur zu schaffen. Doch aus westpapuanischer Sicht stellt sich nicht nur die Frage, was erzählt wird, sondern vor allem: wer erzählen darf.

In Papua, dem indonesisch annektierten Westen der Insel Neuguinea, wird die Geschichte der Region anders erzählt als in Indonesien. Für viele indigene Papuas war etwa die sogenannte Volksabstimmung zur Angliederung an Indonesien von 1969 kein demokratischer Meilenstein, sondern der Beginn systematischer Entmündigung. Nur 1.026 von über 800.000 Menschen durften unter massivem militärischem Druck abstimmen. Obwohl der Prozess formell von der UNO bestätigt wurde, gilt er in Papua bis heute als Farce – als „Act of No Choice“. In Schulbüchern wird diese Episode als freiwillige Rückkehr Papuas zu Indonesien dargestellt. Die realen Traumata – gewaltsame Vertreibungen, verschollene Stimmen, verbrannte Felder – bleiben unerwähnt.

Großprojekte wie das LNG-Tangguh-Werk, die Erdölförderung in Sorong oder Nickelminen in Raja Ampat machen Papua zu einem der wichtigsten Rohstofflieferanten des Landes. 2024 übertraf Papua die nationalen Einnahmeziele mit über 14,5 Billionen Rupiah aus dem Staatshaushalt und 9,6 Billionen Rupiah an Steuern – die höchsten in Ostindonesien. Und dennoch bleibt Papua strukturell benachteiligt.

Laut dem indonesischen Statistikamt BPS lag der Index für menschliche Entwicklung 2023 bei nur 61,39 – dem niedrigsten landesweit. In der neuen Hochlandprovinz Papua Pegunungan lebten über 25 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut. Viele Gemeinden haben keinen Zugang zu sauberem Wasser, das Bildungs- und Gesundheitssystem ist unterversorgt. Die Ressourcen fließen ab, der Wohlstand bleibt aus. Die extraktive Logik aus der Zeit der niederländischen Kolonisierung wirkt bis heute fort.

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Reich an Ressourcen und trotzdem arm

Seit 2001 gilt in Papua ein gesetzlicher Sonderautonomiestatus – „Otonomi Khusus“ oder Otsus. Er sollte politische und finanzielle Selbstbestimmung ermöglichen. Doch laut Indonesia Corruption Watch waren über die Hälfte aller regionalen Korruptionsfälle mit Otsus-Fonds verbunden. Otsus Jilid I brachte keine strukturelle Verbesserung. Otsus Jilid II wurde 2022 ohne breite öffentliche Konsultation eingeführt und vertiefte das Misstrauen der Bevölkerung.

Johanes E.S. Wato

ist Doktorand an der Universität Bonn (BIGS-OAS) und forscht zu indigenem Wissen und Umweltgerechtigkeit in Papua. Er ist Stipendiat des indonesischen Bildungsfonds (LPDP).

Vor Ort zeigt sich eine alarmierende Realität: In über 50 Prozent der Dörfer gibt es keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Schulen verfallen, medizinisches Personal fehlt, Straßen sind oft unpassierbar. Die Auswirkungen spüren vor allem Kinder und Jugendliche, die zwischen Militärposten und wirtschaftlicher Ausweglosigkeit aufwachsen.

Doch es besteht Hoffnung: Junge indigene Frauen, Umweltaktivist*innen, Kirchen, Studierende und Dorforganisationen dokumentieren systematische Menschenrechtsverletzungen, organisieren Bildungsinitiativen und fordern Mitsprache. Ihre Stimmen – oft marginalisiert oder kriminalisiert – sind zentral für eine glaubwürdige nationale Versöhnung.

Eine nationale Geschichtsschreibung, die marginalisierte Gruppen ignoriert, bleibt ein Monolog der Macht. Wenn Indonesien wirklich eine neue Erzählung schreiben will, dann muss sie von den Stimmen leben, die jahrzehntelang unterdrückt wurden – nicht nur von denen, die regieren.

Es braucht Raum für unterdrückte Stimmen

Viele Papuas, insbesondere junge Menschen, sehen sich heute zwischen zwei Welten: einer traditionellen Lebensweise, die von Respekt, Gemeinschaft und ökologischer Balance geprägt ist, und einem nationalen Entwicklungsmodell, das oft auf extraktive Industrien, Zentralismus und militärische Kontrolle setzt. Diese Kluft schafft nicht nur soziale Spannungen, sondern bedroht auch das kulturelle Überleben indigener Gemeinschaften. Umso wichtiger ist es, dass die nationale Geschichtsschreibung nicht nur Fakten sammelt, sondern auch Räume des Zuhörens schafft – für Stimmen, die lange unterdrückt wurden.

Die Aufgabe der Geschichtsschreibung ist nicht, nationale Einheit zu erzwingen, sondern Vielfalt anzuerkennen – mit all ihren Widersprüchen, Konflikten und Hoffnungen. Die Zukunft Indonesiens entscheidet sich nicht in Büros oder Gremien, sondern in der Bereitschaft, die Geschichten der Peripherie in das Zentrum zu rücken. Papua ist keine Randnotiz der Republik – Papua ist ein Prüfstein für ihre demokratische Reife.

Deshalb darf dieses Projekt nicht als technokratische Übung missverstanden werden. Es muss ein moralischer Wendepunkt sein. Als indigener Papuaner, der im indonesischen sowie europäischen Bildungssystem gelernt hat, habe ich Respekt vor dem Schritt von Präsident Subianto, gleich zu Beginn seiner Amtszeit eine notwendige Initiative anzustoßen, um den Zusammenhalt der Nation durch eine gemeinsame Geschichtsschreibung zu stärken. Doch dieser Schritt wird nur dann Bedeutung entfalten, wenn Papua nicht länger beschrieben, sondern aktiv mitgeschrieben wird.

Wenn Indonesien von den indigenen Papuas geliebt werden will, muss es lernen, Papua zu lieben – nicht wegen seines Goldes, Gases oder Nickels, sondern wegen der Menschlichkeit, die in jedem seiner Menschen lebt. Eine neue Geschichte muss Papua den Raum geben zu sagen: Wir sind nicht nur Teil Indonesiens – wir sind Mit­au­to­r*in­nen seiner Zukunft.

Lasst Papua seine Geschichte selbst erzählen – ehrlich, mutig und aus eigener Stimme. Und lasst uns als Nation lernen, mit Würde zuzuhören. Denn nur im Zuhören wächst Anerkennung, und nur aus Anerkennung entsteht Vertrauen.

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