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„Industrial Witchcraft“ in BerlinÜbrig bleiben

In der eigenen Stadt ist man nie Tourist. Statt süßer Melancholie gibt es nur graue Kaputtheit und destruktive Flucht in die Kunst.

„Industrial Witchcraft“ Arbeiten von: Marc Brandenburg, Döbereiner/Rehnert, Cosey Fanni Tutti. Eliza Douglas, Harun Farocki u.a Foto: Stephanie Kloss

D er Flieger landet sehr früh. Ich bin seit fünf Uhr wach. Während ich mit verklebten Wimpern die Gangway langschlurfe, überholt mich ein aufgeregtes italienisches Paar. Verwaschene Gesprächsfetzen, ich verstehe nur „Siamo a Kreuzberg“. Der Typ sieht aus wie ein DJ oder vielleicht auch nur wie jemand, der gerne wie ein DJ aussehen würde. Sie lacht sehr laut, sympathisch.

Die beiden könnten die Hauptfiguren aus Vincenzo Latronicos Roman „Die Perfektionen“ sein. Der halbe Flughafen könnten die Hauptfiguren aus „Die Perfektionen“ sein. Es ist ziemlich leer. Noch nie habe ich begriffen, wie das mit der Stadt funktioniert. Die mich umgebende Menge Menschen erscheint mir seit jeher willkürlich und unberechenbar. Ich verschließe die Ohren mit Leslie Winer. „Are you mindful? Is your mind full?“, fragt mich die US-amerikanische Musikerin eher, als dass sie singt.

Wenn man an einem Freitagmorgen vom BER aus in die Stadt hineinfährt, kann man versuchen, sich kurz vorzustellen, man sei Tourist und käme fürs Wochenende. Das tiefe, allumfassende Anthrazit, welches sich nun Mitte Oktober an schlechten Tagen erstmalig über die Stadt abzusenken beginnt, um sie darin unabwendbar und für die nächsten Monate unwiederbringlich zu verschlingen, versprühte dann vielleicht melancholischen Charme.

Die Tauben in ihrem himmelgrauen Gefieder sehen aus, als seien sie direkt aus den Wolken gefallen, auf der Sonnenallee blinken die Lichter der Gewerbe im diesigen Tagesanbruch: China-Thai-Viet-Shushi. Protein-Factory. Mega-Umzüge. Cowboy-Internet Café. Harry Cutter. Holy Coffee. Euro-Imbiss 2. Da lacht der Durst. Ich bin kein Tourist, und der Bus riecht nach Schweiß. Nach fremden und meinem eigenen. Vor der Haustür haben die Bauarbeiter der Neusanierung nebenan den Schrott auf dem Gehsteig erstaunlich gut nach Größe und Material sortiert. Es hebt die Stimmung.

„Industrial Witchcraft“ bei Die Möglichkeit einer Insel

Am Samstag besuche ich Stephanie Kloss in ihrem Projektraum „Die Möglichkeit einer Insel“. Sie erzählt mir, dass Oliver Koerner von Gustorf die dortige Ausstellung „Industrial Witchcraft“ kuratiert hat. Ich erzähle ihr, dass ich an einen seiner Ausstellungstexte vor vielen Jahren, bei Lisa Herfeldts Schau im Kunstraum Between Bridges bis heute denke. Die ungefilterte Mischung aus Analyse, Wut, Poetik und Snobismus. In den kleinen Räumen der Inselstraße gibt es sie nun als Gruppenschau.

Harun Farockis Film „Arbeiter verlassen die Fabrik“. Fast ekelerregende Gemälde von Eliza Douglas. Cosey Fanny Tuttis sehr explizite, geile pornografische Selbstportraits. Eine Installation von Ursula Döbereiner und Thomas Rehnert nimmt Bezug auf Throbbing Ghristles Dead on Arrival-Cover. Auf einer Zeichnung Mark Brandenburgs steht ein böser Clown zwischen „Friends of Dorothy“, wie in einem echten amerikanischen Albtraum, und von Stephanie selbst gibt es Fotos des leeren Sado-Maso-Studios „Avalon“.

Der Kurator hat keinen Bock auf kollektive Heilung, das schreibt er auch. Die Menschheit ist hier höchstens verbunden in ihrem eigenen Kampf ums Überleben, irgendwo zwischen von Drohnen zerfetzten Gliedmaßen, Kinderpornos, 60-Stunden-Woche und der restlichen langweiligen Internetscheiße. Kunst wie eine Massenpanik, nur ohne Menschen. Es gefällt mir gut.

Hier muss nichts geheilt werden, aber nicht, weil niemand Bock drauf hätte, hier ist einfach noch alles heil

Am frühen Abend sitzen im Roam an der Lindenstraße wenige Leute an einem Biertisch im gleißenden Neonlicht. An den Wänden Malerei und laminierte Zeichnungen vom gerade 18-jährigen Luke Velten unter dem Titel „Kurze Hose mit Kaputze“. Halbvolle Weingläser werden verlangsamt hin- und hergeschoben. Die Stimmung ist weich. Auch hier muss nichts geheilt werden, aber nicht, weil niemand Bock drauf hätte, hier ist einfach noch alles heil.

Beim Rausgehen riechen die Blätter nach Verwesung, violette Astern leuchten im Dunkeln am Stabmattenzaun. Ich öffne mit meinem Gesicht das Telefon und tippe „Brockhaus Leben“ in das Display. „Leben [althochdeutsch lebēn, eigentlich „übrig bleiben (nach einem Kampf) …]“, leuchten mir blaue Buchstaben weiß entgegen. Darunter ein Kasten: „Jetzt kostenlos testen“.

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Hilka Dirks
Redakteurin Berlinkultur
Redakteurin für Berlinkultur, freie Autorin und Grafikerin. Studierte Erziehungswissenschaften, Philosophie, visuelle Kommunikation und Grafikdesign in Berlin und promoviert an der UdK Berlin. Organisiert unregelmäßig Veranstaltungen im Bereich Kunst und Literatur.

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