Initiative „Zero Covid“: Zeit für Stunde null

Die Wirtschaft herunterfahren, und das in ganz Europa. Eine Initiative fordert radikale Schritte gegen die Pandemie und Solidarität.

Solidarität in Zeiten von Corona ist oft von Freiwilligkeit gekennzeichnet: Suppenküche in Berlin Foto: K.M. Krause / snapshot-photography

HAMBURG taz | Die Lage ist katastrophal: Weltweit sind knapp 2 Millionen Menschen an den Folgen einer Infektion mit dem Coronavirus gestorben, und in vielen Ländern steigen die täglichen Zahlen weiter an. Obwohl in Deutschland weite Teile des öffentlichen Lebens lahmgelegt sind, infizieren sich nach wie vor fast 20.000 Menschen täglich, in vielen anderen europäischen Ländern sieht es genauso schlecht aus.

Am Mittwoch veröffentlichte eine Initiative aus Wis­sen­schaftler*innen, Autor*innen und Mitarbeiter*innen des Gesundheitssektors deshalb einen Appell: Unter dem Stichwort „Zero Covid“ fordern sie einen „radikalen Strategiewechsel“ und europaweiten sofortigen Lockdown in allen Bereichen der Wirtschaft. „Wir brauchen kein kontrolliertes Weiterlaufen der Pandemie, sondern ihre Beendigung“, heißt es in dem Appell der Gruppe um die Philosophin und Autorin Bini Adamczak.

Dabei sei es wichtig, dass die „Maßnahmen gesellschaftlich solidarisch“ gestaltet würden. Die Unterstützer*innen, darunter auch Schriftsteller*innen Margarete Stokowski, Raul Zelik und Sharon Dodua Otoo, attestieren den europäischen Regierungen Totalversagen in ihren Interventionen gegen die Pandemie.

Für die Trendwende, so die Gruppe, sei eine sofortige, mehrwöchige Stilllegung aller Wirtschaftsbereiche bis auf wenige Ausnahmen notwendig. Welche das genau seien, blieb unklar. Büros, Baustellen und Fabriken müssten jedoch geschlossen und die Arbeitspflicht ausgesetzt werden, bis die Infektionszahlen den Nullpunkt erreicht hätten, heißt es in dem Appell. „Mit diesem Aufruf fordern wir auch die Gewerkschaften auf, sich entschlossen für die Gesundheit der Beschäftigten einzusetzen.“

Bini Adamczak, Autorin

„Die Gesellschaften in Europa haben enormen Reichtum angehäuft, den sich einige wenige angeeignet haben“

Für die Lohneinbußen soll nach dem Willen der Initiative ein umfassendes Rettungspaket verabschiedet werden, das Entschädigungen und Fortzahlungen garantiert, aber auch Prekäre, informell Beschäftigte, Obdachlose und Menschen in Sammelunterkünften absichert. Wer im totalen Shutdown besonders viel Sorgearbeit leiste, solle durch Gemeinschafts­einrichtungen entlastet und Kinder digital, notfalls in Kleingruppen unterrichtet werden.

Das Geld für eine solche Intervention sei vorhanden, argumentiert die Initiative. „Die Gesellschaften in Europa haben enormen Reichtum angehäuft, den sich allerdings einige wenige Vermögende angeeignet haben.“ Diese müssten über Abgaben auf hohe Einkommen und Vermögen, Unternehmensgewinne und Finanztransaktio­nen in die Pflicht genommen werden. „Mit diesem Reichtum sind die Arbeitspause und alle solidarischen Maßnahmen problemlos finanzierbar“, sind sich die Autor*innen sicher.

Manche Ideen sind gar nicht neu

„Wir müssen weg von dem Schlingerkurs, bei dem die Regierungen immer erst im Nachhinein auf Vorhersehbares reagieren“, sagte Adamczak zur taz. Die Maßnahmen, die dann beschlossen würden, schränkten das Leben genauso stark ein, müssten dann aber zusätzlich länger bestehen bleiben, um zu wirken, so die Autorin. Viele Menschen verstünden nicht, warum sie ihr Privatleben einschränken müssten, aber der Arbeitsbereich weitgehend unbehelligt bleibe. Stattdessen werde dauernd über Schulschließungen geredet, kritisiert Adamczak. „Aber man kann die Schulen nicht schließen, wenn die Eltern weiter arbeiten müssen.“ Das Hin und Her von halbherzigen Maßnahmen und anschließenden Lockerungen samt dem daraufhin unvermeidlichen Wiederanstieg der Infektionszahlen habe viele Leben gekostet, so könne es nicht weitergehen.

Die Verfasser*innen des Aufrufs fordern deshalb auch einen massiven Ausbau des Gesundheitswesens und die Rekommunalisierung privater Krankenhäuser. Der gesamte Sektor inklusive der Covid-Impfstoffe müsse der Profitlogik entzogen und allen zugänglich gemacht werden, heißt es in dem Appell. Dass das nicht von heute auf morgen ginge und gemeinsame Lösungen auf europäischer Ebene schwer zu erzielen seien, sei klar, sagt Adamczak. „Das ist aber kein Grund, nicht schon mal anzufangen.“ Für den Übergang schlägt die Initiative das Konzept von Grünen Zonen vor, in denen man sich frei bewegen und alles öffnen kann, sobald die Infektionszahlen dort auf null seien.

Ganz neu ist die Idee von „Zero Covid“ nicht. Die Verfasser*innen beziehen sich unter anderem auf die in Großbritannien initiierte internationale Kampagne „End Coronavirus“, die seit Februar 2020 basisdemokratische Strategien entwickelt, an denen sich Politiker*innen, Unternehmen und Einzelpersonen orientieren könnten. Außerdem schließt sie sich dem Aufruf „Contain Covid Pan-EU“ vom 19. Dezember 2020 an. Darin wiesen internationale Wissenschaftler*innen, darunter auch Virologin Melanie Brinkmann und Physikerin Viola Priesemann, darauf hin, dass der Schutz durch den Impfstoff erst Ende 2021 greifen werde und die europäischen Regierungen deshalb sofort auf eine koordinierte Strategie umschwenken müssten.

Adamczak und ihre Mit­streiter*innen stützen sich darüber hinaus auf eine Analyse der österreichischen und deutschen Wissenschaftler*innen Christian Zeller, Verena Kreilinger und Winfried Wolf, die den politisch Verantwortlichen ebenfalls ein umfassendes Versagen der Pandemiebekämpfung attestieren. „Die Regierungen stehen unter dem Diktat der kapitalistischen Wirtschaft“, kritisieren sie. Aber auch linken Parteien und Gewerkschaften werfen die Wissenschaftler*innen vor, in der Coronakrise versagt zu haben. Forderungen, die Reichen für die Krise zur Kasse zu bitten, seien kaum erhoben worden und der Gesundheitsschutz der Arbeiter*innen sei vernachlässigt worden.

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