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Initiative gegen sexualisierte GewaltEin Schutzschild beim Feiern

Die Kölner Initiative Edelgard unterstützt Betroffene von sexualisierter Gewalt bei Festivals oder Karneval. Und verweist auf strukturelle Probleme.

Sexualisierte Gewalt beginnt nicht erst, wenn sie physisch wird Foto: Westend61/imago

Köln taz | Die Sonne sinkt langsam hinter der Bühnenkulisse des Summer Jam Festivals und der Bass wummert über den Fühlinger See. Es ist kurz vor 21 Uhr an einem warmen Freitagabend im Kölner Norden. Dicht gedrängt tanzen Menschen und feiern die Musik. Doch wo viele Menschen auf engem Raum zusammenkommen, bleibt eines häufig unsichtbar: sexualisierte Übergriffe. Genau hier beginnt die Arbeit von Edelgard.

Franzi, Beraterin bei Edelgard, hat ihren Platz am Rande des Festivalgeländes eingerichtet. Die mobile Beratungsstelle ist von einem orangen Pavillon überdacht. „Wir sind eine erste Anlaufstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt“, sagt Franzi.

Typische Gründe, weshalb Betroffene zur Beratungsstelle kommen, sind angegrapscht zu werden, dass jemand einem ungefragt zu nahe kommt oder das Gefühl, verfolgt zu werden, sagt Franzi. Von Gefühlen der Unsicherheit bis hin zu schwerwiegenden Fällen wie Vergewaltigungen: All das hat sie schon in der mobilen Beratungsstelle erlebt.

Franzi hat Soziale Arbeit studiert, einen Master in Gender Studies gemacht und arbeitet hauptberuflich in einer Beratungsstelle für Betroffene von familiärer Gewalt. Teil des Edelgard-Teams ist sie seit Ende 2023 und wird bei Bedarf bei einzelnen Veranstaltungen eingesetzt, bei denen Edelgard vor Ort ist.

In ihrer Notfalltasche hat sie zum Beispiel saure Bonbons, einen Igelball, Decken. Der saure Reiz und die Stimulation des Igelballs ­können Betroffenen helfen, ins Hier und Jetzt zurückzukehren, indem sie ihre Aufmerk­samkeit stark auf den gegenwärtigen Moment lenken und so ­Dissoziationen oder Flashbacks unterbrechen.

Die betroffene Person ist die Expertin für die eigene Situation

Franzi, Beraterin bei Edelgard

Die Gegenstände können auf den ersten Blick banal wirken, in Wahrheit aber Großes leisten. „Zuerst müssen häufig Grundbedürfnisse wie Durst, Hunger, Wärme abgedeckt werden. Dann kann man über das Erlebte sprechen, wenn die Person das möchte“, sagt sie.

Die Handys der Beraterinnen müssen immer aufgeladen sein, damit Betroffene sie während der Einsatzzeiten erreichen können. Franzi legt Infomaterial auf dem Tisch bereit, daneben stehen einige Stühle. Von 21 bis 1 Uhr nachts sind zwei Beraterinnen im Dienst. Während der Einsatzzeiten darf die taz sie nicht begleiten, die Gespräche mit den Betroffenen sind streng vertraulich.

Sexualisierte Gewalt beginnt nicht erst, wenn sie physisch wird. Catcalling, sexistische Witze und ungefragtes Fotografieren: All das sind Übergriffe. Zwei von drei Frauen erleben in ihrem Leben sexuelle Belästigung. Das Angebot von Edelgard richtet sich zwar explizit an FLINTA*-Personen (Akronym für Frauen, Lesben, inter, nichtbinäre, transgender und agender Personen), aber im Grunde seien alle Personen willkommen.

Gründung nach Silvesternacht 2015/16 in Köln

„Es kann einen positiven Einfluss auf den Umgang mit traumatischen Situationen haben, wenn man schnell adäquate und empathische Unterstützung erhält. Das ist auch das, was Edelgard leisten möchte und kann“, erklärt Franzi. Allerdings nehmen aus Angst und Scham viele Betroffene von sexualisierter Gewalt keine Hilfe in Anspruch.

Die Initiative Edelgard ist benannt nach den althochdeutschen Begriffen „edel“ wie aufrecht und stolz und „gard“ wie Schutz. Ein Schild, das sich vor die Betroffenen stellt. Gegründet nach den Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln ist die mobile Beratungsstelle auf Großveranstaltungen nur ein Teil eines umfassenden Projekts.

Es basiert auf vier Säulen: „Edelgard informiert“ stellt die Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit zu sexualisierter Gewalt dar. Darüber gibt es „Edelgard schützt“: Im Rahmen dessen werden Mit­ar­bei­te­r:in­nen von öffentlichen Orten wie Cafés, Bars, Kinos und Apotheken geschult, um Erste Hilfe für Betroffene von sexualisierter Gewalt zu leisten.

Man kann an diesen Orten auch Sicherheit finden, wenn man sich verfolgt fühlt oder unangenehme Situationen erlebt hat. Die Unterstützung richtet sich also nicht nur an Betroffene, sondern auch an jene, die helfen wollen.

240 Institutionen sind bereits Teil von „Edelgard schützt“. Diese werden sowohl durch einen Edelgard-Sticker an der Tür als auch in der „Edelgard Map“ als schützender Ort gekennzeichnet. Auf dem Sticker sieht man das Logo von Edelgard – eine rothaarige Frau mit einer Lanze in der Hand –, das in Köln mittlerweile recht bekannt ist.

An Tagen, an denen die ganze Stadt ausgelassen feiert, steigt auch das Risiko für sexualisierte Gewalt

Lisa Fischer, Co-Leiterin der Koodinierungsstelle Edelgard

Die letzte Säule ist „Edelgard mobil“, die Akutberatung auf Großveranstaltungen wie auch dem Summer Jam Festival. ­Edelgard ist dort zwar nicht rund um die Uhr erreichbar, jedoch ergänzt es bestehende Angebote wie den Notruf für vergewaltigte Frauen.Insgesamt ist das Ziel von Edelgard: Räume schaffen, in denen sich alle sicher fühlen und mit Aufklärungs- und Sensibilierungsarbeit enttabuisieren.

Edelgard arbeitet parteilich mit den Betroffenen: „Wir stellen nicht infrage, dass etwas passiert ist. Wir nehmen das, was die Person erzählt, als Wahrheit, weil es die Wahrheit der betroffenen Person ist“, sagt Franzi. Es gehe darum, Betroffenen ein Stück Selbstwirksamkeit zurückzugeben.

Hinter Masken fühlen sich Tä­te­r:in­nen sicher

Ein wichtiger Teil der Beratung ist es, über Möglichkeiten wie etwa die anonyme Spurensicherung (ASS) in Krankenhäusern aufzuklären. Durch eine ASS können Spuren einer Sexualstraftat dokumentiert werden, ohne dass Betroffene sofort Anzeige erstatten müssen.

Hanna Frank (links) und Lisa Fischer (rechts) aus der Koordinierungsstelle von Edelgard Foto: Edelgard

„Die betroffene Person ist die Expertin für den eigenen Umgang mit der Situation“, betont Franzi. Bei Edelgard entscheiden Betroffene immer selbst, ob sie Anzeige erstatten möchten, oder ob die Polizei oder der Rettungsdienst unterstützen soll. Nur in Fällen, in denen Betroffene beispielsweise dissoziieren, wird immer der Rettungsdienst gerufen.

Köln ist bekannt für seine Feierkultur, besonders für den ­Karneval. Doch hinter der bunt geschminkten Maske verbergen sich häufig Gewalt und ­Übergriffe. 2024 wurden 22 Fälle sexualisierter Gewalt beim Karneval angezeigt, darunter sechs Vergewaltigungen. Die Dunkel­ziffer dürfte deutlich höher liegen.

„An Tagen, an denen die ganze Stadt ausgelassen feiert, steigt auch das Risiko für sexualisierte Gewalt“, erklärt Lisa Fischer, die gemeinsam mit Hanna Frank die Koordinierungsstelle von Edelgard leitet. Bei Veranstaltungen, bei denen man sich verkleidet, wie zum Beispiel beim Karneval oder auf der Gamescom, fühlen sich Tä­te­r:in­nen vermeintlich anonym. „Ich habe den Eindruck, in solchen Kontexten fühlen sich viele Tä­te­r:in­nen durch den Schutz einer Verkleidung sicherer“, sagt Lisa.

Finanzierung ist unklar

Im Beratungskontext gehe es darum, individuelle Hilfe zu leisten, auch wenn sexualisierte Gewalt Struktur hat: „Das einzige Muster, das man an allen Fällen festmachen kann, ist, dass sexualisierte Gewalt ein strukturelles Problem ist“, sagt Franzi. Das Problem fasst Hanna zusammen: „Wir wissen auf systemischer Ebene, dass Tä­te­r:in­nen oft keine Strafen erhalten.“ Die Gründe dafür sind vielschichtig.

Es wird davon ausgegangen, dass nur etwa 10 Prozent aller sexualisierten Übergriffe angezeigt werden. Das liegt in erster Linie an der Stigmatisierung und einer häufigen Täter-Opfer-Umkehr. Betroffenen wird meist eine Mitschuld zugeschoben, sie hätten sich falsch verhalten, zu aufreizende Kleidung getragen oder zu viel Alkohol getrunken. Ein anderer Grund ist, dass die meisten Übergriffe von einer der Betroffenen nahestehenden Person ausgehen und dass die Betroffene ihr nicht schaden will. Darüber hinaus werden nur wenige der angezeigten Fälle verurteilt.

Edelgard gibt es nicht nur beim Karneval oder Summer Jam. Die Beraterinnen sind bei Straßenfesten, Festivals und Großveranstaltungen im ­Einsatz. Sie schaffen Sichtbarkeit, um zu helfen, um aufzuklären, aber auch, um potenzielle ­Tä­te­r:in­nen abzu­schrecken.

Doch trotz der Bekanntheit der Initiative in der Kölner Stadtgesellschaft ist ihre Zukunft unsicher. Die Finanzierung durch die Stadt Köln lief Ende 2024 aus, weshalb die Initiative Anfang 2025, auch beim Karneval, nicht arbeiten konnte. Dank der Unterstützung der Zivilgesellschaft wurde Edelgard ab Frühjahr 2025 im Haushalt der Stadt Köln wieder berücksichtigt. Nun haben die Diakonie Michaelshoven Soziale Hilfen gGmbH und der Sozialdienst katholischer Frauen Köln e. V. die Trägerschaft bis Ende 2026 vorübergehend übernommen. Und danach?

Im Patriarchat braucht es Edelgard

„Es ist aufwendig, alle zwei Jahre neu anzufangen“, sagt Lisa. Denn wie viele andere Präventionsprojekte ist auch Edelgard auf projektbasierte Förderungen angewiesen. Langfristige Planung sei kaum möglich. Dabei hat sich die Kölner Stadtgesellschaft deutlich für Edelgard ausgesprochen – mit Spenden, Unterstützung und politischem Rückenwind.

„Unser Ziel ist es, sichere Räume für alle Geschlechter zu schaffen“, sagt Lisa. Das bedeutet nicht nur, Menschen nach Gewalterfahrungen zu unterstützen, sondern auch, präventiv zu arbeiten. „Wir wollen auf eine Gesellschaft hinarbeiten, in der jede Person ein Recht auf Schutz und Respekt hat und frei von Gewalt leben kann.“

Franzi ergänzt: „Ich würde mir wünschen, Jobs wie meiner oder Initiativen wie Edelgard wären obsolet. Aber solange wir im Patriarchat leben, wird es so was wie Edelgard immer geben müssen.“ Vielleicht wird aus der mobilen Beratungsstelle ein fester Bestandteil städtischer In­frastruktur. Egal wie es weitergeht: Edelgard bleibt aufrecht, stolz und schützend – da, wo andere wegsehen.

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