Intersexuelle: Weder männlich noch weiblich

Bei der Geburt muss schnell entschieden werden, welches Geschlecht das Kind hat. Nicht immer ist das möglich. Für Betroffene hat dies oft katastrophale Folgen.

Mitglieder einer Selbsthilfegruppe von Intersexuellen demonstrieren in Köln. Bild: dpa

BERLIN taz | Es handelt sich um Launen der Natur: Das biologische Steuerungsprogramm funktioniert aufgrund eines veränderten Chromosomensatzes oder einer genetischen Mutation nicht vorschriftsmäßig, der Hormonhaushalt ist gestört oder ein anderes Stoffwechselproblem führt zu einer atypischen Geschlechtsausprägung. Manchmal ist das schon bei der Geburt zu sehen, manchmal erst mit aufwendiger Diagnostik nachweisbar, und gelegentlich bilden sich die gegengeschlechtlichen Anlagen sogar erst in der Pubertät aus.

Dann ist der Mensch nicht männlich oder weiblich, sondern irgendetwas "dazwischen", wobei sich der Variantenreichtum dem systematisierenden Willen entzieht. Dennoch hat der naturwissenschaftliche Glaube, die Natur korrigieren und in ordnungsgemäße Bahnen lenken zu müssen, bis in die Gegenwart viel Schmerz und Leid verursacht.

Nachlesen lässt sich das in den einschlägigen Internetforen sogenannter intersexueller Menschen und neuerdings auch in der Stellungnahme "Intersexualität" des Deutschen Ethikrats, nachgerade ein Novum, weil sich dieser in seinen Verlautbarungen sonst nicht auf individuelle Schicksale bezieht.

Von entwürdigenden und schmerzhaften Genitalkorrekturen im Kindes- und Jugendalter wird dort berichtet, von Verstümmelungen und lebenslangen Hormontherapien, davon, wie Eltern und Betroffene von Ärzten belogen und ihnen Akten vorenthalten wurden und wie die medizinische Zurichtung das gesamte Leben der zu Patienten deklarierten Menschen bestimmt hat.

Anlass der Stellungnahme war ein Auftrag der Bundesregierung, die Lebenssituation von Menschen mit Unterschieden in der geschlechtlichen Entwicklung (differences of sex development, DSD, so die nichtdiskriminierende Bezeichnung) zu erkunden und Empfehlungen zu ihrer Gleichstellung zu geben.

Schluss mit dem binären Schema

Unter Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Selbsthilfegruppen hat der Rat nach 14-monatiger Vorbereitungszeit ein bemerkenswertes Papier vorgelegt, in dem nicht nur erstmals offiziell die Leiderfahrungen eingeräumt werden, sondern das unmissverständlich festhält, dass jedem Menschen das Recht zusteht, "seine eigene Geschlechtlichkeit in eigener Verantwortung zu entscheiden" und deshalb nicht gezwungen werden kann, sich in einem "binären Schema von männlich und weiblich" festzulegen.

Dieser Grundsatz stellt zunächst einmal die geltenden ärztlichen Leitlinien infrage, in denen Operationen noch immer als gängige Therapieform bei uneindeutigem Geschlecht gelten. Wobei zu unterscheiden ist zwischen Eingriffen, die das Geschlecht vereindeutigen - das sind zum Beispiel Hormongaben bei der relativ häufig auftretenden Androgenüberfunktion (AGS) - und solchen, die das Geschlecht gezielt zuordnen.

Etwa, wenn einem "Mädchen" verborgen vorhandene Hoden entnommen, wenn Genitale "geweitet" oder Fortpflanzungsorgane entfernt werden. Entscheiden Eltern über den Kopf ihres Kindes hinweg, dessen Geschlecht noch unbestimmt ist, stellt dies einen erheblichen Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht dar.

Lebenslange Folgen

Diese Irreversibilität der Intervention bei der "Herstellung" eines bestimmten oder bei der "Angleichung" an ein bestimmtes Geschlecht ist ein Problem, vor das Eltern und Therapeuten gestellt sind. Mit den Folgen haben die Betroffenen lebenslang zu tun.

Die wenigen, teilweise methodisch nicht vergleichbaren Untersuchungen, die durch eine Onlinebefragung des Ethikrats ergänzt wurden, zeichnen ein beunruhigendes, allerdings auch widersprüchliches Bild von der Lebenswirklichkeit und Lebensqualität intersexueller Menschen.

Nicht nur die traumatischen chirurgischen Behandlungserfahrungen scheinen darin auf; viele Betroffene wurden gar nicht oder nicht ausreichend aufgeklärt, sind unzufrieden mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht oder mit dem Operationsergebnis oder klagen über sexuelle Störungen und Missempfindungen.

Option lange offen halten

AGS-"Frauen" scheinen sich offenbar besser in ihre Rolle einzufinden (AGS-Betroffene, die als "Männer" leben, wurden allerdings überhaupt nicht berücksichtigt). Betroffene mit anderen DSD-Formen berichten von Angst vor sexuellen Kontakten, Rollenunsicherheit, Depressionen und starken körperlichen Beeinträchtigungen bis hin zu Arbeitsunfähigkeit.

Deshalb setzt sich zumindest langsam die Erkenntnis durch, dass die "Optionen" möglichst lange offen gehalten werden und Interventionen nur unter Einbeziehung der betroffenen Kinder und Jugendlichen - je nach Stand ihrer Entscheidungsfähigkeit - erfolgen sollten.

Selbst wenn der chirurgische Eingriff in einem früheren Stadium mehr Erfolg verspricht, sind die damit verbundenen möglichen Lasten und Probleme dadurch nicht aufzuwiegen.

Kindeswohl muss Vorrang haben

Es mag Eltern schwerfallen, ein Kind ohne eindeutige Geschlechtsidentität zu erziehen. Ihre Rechte und ihre Fürsorgepflicht enden jedoch, wenn es um die sexuelle Selbstbestimmung des Kindes geht.

Viele Betroffene fordern deshalb, dass Eingriffe bei Minderjährigen nur in lebensbedrohlichen Lagen - zum Beispiel bei hormonell bedingtem Salzverlust oder Tumorbildung - indiziert seien.

Menschen, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen, erleben auch im Alltag Diskriminierungen. Das beginnt schon bei der Selbstdeklarierung: Mann oder Frau? Das deutsche Personenstandsrecht verpflichtet zu entsprechenden Angaben, daran änderte auch das Transsexuellengesetz nichts.

Der Gesetzgeber in Deutschland verlangt Eindeutigkeit, aus familien- oder sozialrechtlichen Gründen und - paradoxerweise - um den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen durchsetzen zu können. Doch viele Juristen behaupten, dass die beiden ausschließlichen Kategorien "männlich" und "weiblich" - die seitens des Rechts gar nicht definiert sind - ordnungspolitisch nicht zu begründen sind.

Hirschfelds Vorschlag: ein "drittes Geschlecht"

Der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld hatte in den zwanziger Jahren deshalb ein "drittes Geschlecht" vorgeschlagen, und es gibt Länder, wo man "anderes" ankreuzen kann, wenn man sich weder nur männlich oder nur weiblich fühlt.

Dies aber, wird dagegengehalten, könnte schon wieder zu Diskriminierungen führen. Also doch lieber gar keine Zuordnung und Verzicht auf die entsprechende Rubrik, die künstlich Ordnung schaffen soll, wo offenbar doch nur sex trouble herrscht?

Mit der messerscharfen, ordnungschaffenden Zurichtung kam viel Unglück in die Welt. Vielleicht ringt sich der Gesetzgeber ja ein einziges Mal zu einer fröhlichen Unordnung durch.

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