Interview Oppositioneller Syrien: "Absolute Macht bringt Verderbtheit"

Trotz 50 Jahren totalitärer Herrschaft werden die Proteste weitergehen. Darüber ist sich der bekannte Oppositionelle Haitham al-Maleh sicher.

Präsident Assad inmitten seiner Fans im Parlament. Bild: dapd

taz: Herr al-Maleh, glaubt man Präsident Baschar al-Assad, sind in Syrien Reformen in Vorbereitung. In seiner Rede am Mittwoch sprach er davon, dass bereits im Jahr 2005 Beschlüsse zu Reformen gefasst worden seien und der Entwurf zur Überarbeitung der Notstandsgesetze der Führung der Baath-Partei seit einem Jahr vorliege. Was sagen Sie dazu?

Haitham al-Maleh: Wenn die syrische Führung den Ausnahmezustand aufheben möchte, dann hat sie zwei Möglichkeiten: Nach dem Gesetz kann das Kabinett unter Vorsitz des Staatspräsidenten ein Dekret dazu erlassen. Die zweite Möglichkeit ist in der Verfassung vorgesehen. Der Staatspräsident kann ein Dekret zur Aufhebung unterschreiben. Weder das eine noch das andere ist bis jetzt geschehen. Was wir erleben, ist nur Gerede. Das Wort "Beschluss" in Zusammenhang mit den Notstandsgesetzen gibt es nicht. Wir brauchen ein Dekret.

Wie ist die gegenwärtige Stimmung in Syrien?

HAITHAM AL-MALEH, 80, ist Rechtsanwalt und einer der bekanntesten Bürgerrechtler Syriens. Er hat viele Jahre seines Lebens in Gefängnissen verbracht. Zuletzt kam er Mitte März nach einer anderthalbjährigen Haft frei.

Sie ist sehr schlecht. In den letzten Jahrzehnten hat sich bei den Menschen viel Wut angestaut. Der Funke ist nun aus Tunesien zu uns übergesprungen. Es gibt eine Reihe ungelöster Problemen aus den 80er Jahren.

Welche meinen Sie?

Da ist beispielsweise die Akte der Verschwundenen. 60.000 bis 70.000 Menschen, die bei den Unruhen in den 80er Jahren getötet wurden, wurden bis jetzt offiziell nicht für tot erklärt. Viele Angehörigen befinden sich in einer schwierigen Lage. Frauen können nicht wieder heiraten, Besitz kann nicht vererbt werden. Es gibt ungefähr 20.000 enteignete Häuser, die Mitgliedern der Muslimbruderschaft gehört haben sollen. Darin wohnen jetzt Sicherheitsbeamte.

Geht es nur um Aufarbeitung der Vergangenheit?

Nein. 250.000 Syrer leben im Ausland und dürfen nicht in ihr Land zurück. Nach dem Gesetz und nach internationalen Konventionen, die Syrien unterschrieben hat, haben diese Menschen ein Recht, in die Heimat zurückzukehren. Ich habe mich immer wieder mit verschiedenen Ministern und Beratern des Präsidenten getroffen und Briefe an den Staatspräsidenten geschrieben, um diese Probleme zu lösen. Alles blieb ohne Antwort. Ich glaube nicht, dass das Regime etwas unternehmen wird, um diese Akten bald zu schließen.

Die Demonstranten fordern, dass die Notstandsgesetze aufgehoben werden. Welche weiteren Reformen sind nötig?

In unserem Gesetzbuch gibt es den Artikel 16 des Dekrets Nr. 14, der die Sicherheitskräfte vor juristischer Verfolgung schützt. Wortwörtlich steht dort geschrieben, dass es nicht erlaubt ist, die Angestellten im Dienst für Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen, es sei denn, auf Befehl des Direktors. Ich habe dem Präsidenten zu Beginn seiner Amtszeit gefragt, wie es sein kann, dass das Gesetz etwas als Verbrechen bezeichnet und den Verbrecher nicht zur Rechenschaft zieht!

Das allein wäre noch keine Demokratisierung.

Dann haben wir Artikel 49, der für die Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft die Todesstrafe vorsieht. Und wir haben Artikel 8 der Verfassung, der die Baath-Partei zur Führerin des Staates und der Gesellschaft macht. Das alles muss aufhören.

Die Demonstranten fordern immer wieder ein Ende der Korruption. Wie kann dieses Problem gelöst werden?

Es gibt den bekannten Spruch: Absolute Macht bringt absolute Verderbtheit. Wer soll wen zur Rechenschaft ziehen? Die Abgeordneten im Parlament haben ihre Sitze durch gefälschte Wahlen oder durch Ernennung bekommen. Also können sie auch nicht den Staat kontrollieren.

Auffällig bei den Protesten ist, dass bislang keine Person in Erscheinung getreten ist, die die Demonstranten in der Öffentlichkeit vertritt oder ihre Forderungen wiedergibt. Warum ist das so?

Ich denke, Syrien genießt in der arabischen Welt eine Ausnahmestellung. Seit 50 Jahren leben wir in einer totalitären Herrschaft, in einem Polizeistaat. Das Regime hat alle Strukturen zerstört, wie etwa politische Parteien. Angesehene Persönlichkeiten der Gesellschaft sind entweder gestorben oder befinden sich im Ausland. Aber wenn die Demonstrationen zunehmen und mehr Menschen auf die Straßen gehen, dann werden nach und nach auch Personen in Erscheinung treten, die die Meinungen der Demonstranten wiedergeben.

Wie sehen Sie die Entwicklung in den kommenden Wochen?

Ich habe kein Vertrauen in die syrische Führung. Sie verteidigt nur ihre eigenen Interessen und schert sich nicht um das Land. Die Proteste werden weitergehen. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass es innerhalb des Regimes zu Kämpfen kommt.

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