Israel und Libanon: Der Krieg, den es offiziell nicht gibt
Zwischen Israel und Libanon gilt eine Waffenruhe. Doch bei Angriffen sterben immer wieder Libanes*innen, viele können nicht in ihre zerstörten Dörfer zurück.
taz | Tarek Mazraani fürchtet um sein Leben. Dabei möchte er nur zurück nach Hause. Der libanesische Ingenieur ist vertrieben aus Houla, einem Dorf direkt an der Grenze zu Israel. Weil er eine parteiunabhängige Initiative gegründet hat, die darauf drängt, dass Bewohner*innen sicher zurück in ihre Dörfer können, ist er dem israelischen Militär ein Dorn im Auge.
Am 12. Oktober flogen israelische Drohnen über Dörfer im Bezirk Nabatieh und verbreiteten Audio-Aufnahmen mit Drohungen gegen Mazraani. Sie forderten die Einheimischen auf, ihn zu vertreiben, und beschuldigten ihn, ein „zerstörerisches Projekt“ zu verfolgen. Die Botschaft war klar: Einschüchterung aller, die es wagen, in ihre Dörfer zurückzukehren.
Eigentlich ist zwischen Israel und Libanon seit 27. November 2024 eine Waffenruhe in Kraft, nach mehreren Monaten Krieg zur Zerschlagung der libanesischen Hisbollah-Miliz durch Israel mit mehreren tausend Toten. Doch Israel bricht sie jeden Tag. Libanesische Medien zählten bis Mitte Oktober zwischen 270 und 290 Tote bei israelischen Angriffen seit der Waffenruhe, davon nach Angaben des UN-Menschenrechtsbüros von Ende September mindestens 103 Zivilist*innen.
Die Zahlen steigen weiter. Am vergangenen Donnerstag starben mindestens vier Menschen, darunter eine ältere Frau, bei israelischen Luftangriffen auf die östliche Bergkette in der Bekaa-Region nahe der Grenze zu Syrien und die Region Hermel im Nordosten Libanons, am Samstag meldete Libanons Gesundheitsministerium zwei Tote bei israelischen Angriffen auf ein Auto und ein Motorrad in zwei südlibanesischen Gemeinden. Israel sagte, die Angriffe hätten „terroristischen Zielen“ gegolten.
Über 60.000 Vertriebene
„Nach dem Waffenstillstand wird so getan, als sei der Krieg zu Ende“, sagte Mazraani dem libanesischen Fernsehen. „Aber für uns, die Menschen aus den Grenzdörfern, geht der Krieg weiter.“ Der Libanese teilt das Schicksal mit über 64.000 Menschen, die noch immer vertrieben sind. Hunderte beschädigte Schulen, Gesundheitseinrichtungen und andere zivile Orte im Südlibanon sind seit dem Krieg vom vergangenen Jahr noch Sperrgebiete oder nur teilweise nutzbar.
Dutzende Dörfer sind unzugänglich, weil Israel den Menschen verbietet, sie zu betreten. Israel besetzt noch immer mindestens fünf Stützpunkte auf Bergen im Südlibanon, verbarrikadiert mit Betonklötzen, ausgestattet mit Überwachungstechnik und Soldaten.
Mehrere Menschen aus Grenzdörfern berichten der taz, dass sie bei Besuchen in ihren Dörfern mit Drohnen verfolgt werden. Die Drohnen kämen so nah, dass sie den Menschen direkt vor den Köpfen surren. Für einige sind sie ständige Begleiter. Keiner möchte mit Klarnamen sprechen, die Menschen fürchten, dass sie selbst oder ihre Familie von Israel diffamiert, angegriffen oder getötet werden.
„Es ist fast schon ein Ritual wie Kaffeetrinken. Ich schaue morgens aufs Handy und sehe wieder Whatsapp-Nachrichten über drei, vier Angriffe“, sagt ein Fischer aus Tyros. Täglich würden die Fischer in den Häfen von Tyros und Naqoura angegriffen. „Drohnen verfolgen uns, schmeißen kleine Bomben auf uns, manchmal machen sie einen lauten Knall, damit die Fischer zurück in den Hafen fliehen“, so der Fischer. „Sie kommen auch mit Militärschiffen und Soldaten schießen auf uns.“
Noch sei keiner gestorben, aber es gebe unzählige Verletzte. „Am Dienstag erst sind sie in Sour mit einem Boot in die Nähe von zwei Fischern gekommen. Sie haben neben ihr Boot geschossen, die Fischer sind in den Hafen geflüchtet. Ihr Netz hatten sie im Wasser gelassen. Es war komplett zerstört.“
Fischer trauen sich nicht mehr aufs Meer
Rund 190 Fischerboote gebe es in Tyros und Naqoura. Sie alle hätten Angst, viele trauen sich nicht mehr aufs Meer. Der Terror hat konkrete Folgen, sie können ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten, sind auf Geld von Freunden oder Familienmitgliedern im Ausland angewiesen. „Wir leben von Tag zu Tag. Wenn Fischer aufs Meer hinausfahren, können sie essen. Bleiben sie zu Hause, können sie nicht essen.“
Zwei Fischer hat das israelische Militär sogar verschleppt. Am Morgen des 2. Februar entführten israelische vermummte Soldaten den Fischer Mohammad Juhair von seinem Boot. Eine zweite Entführung folgte am 4. Juni, vor der Küste von Ras Naqoura. Der 34-jährige Ali Fneisch war mit seinem Boot auf dem Meer, laut Medienberichten überquerten israelische Militärboote die Seegrenze und verschleppten ihn. Seitdem ist Fneisch als Geisel in Israel. Seine Familie weiß nicht, wie es ihm geht.
Ramzi Kaiss, Human Rights Watch
Die Verbrechen passieren im libanesischen Gewässer. Doch weder das libanesische Militär noch die UN-Mission Unifil schützen die libanesischen Fischer. Die maritime Mission von Unifil wird aus deutschen Geldern finanziert. Ihr Auftrag lautet nur, den Seeraum zu überwachen und über möglichen Waffenschmuggel Bericht zu erstatten. Eingreifen dürfen sie laut Mandat nicht. „Keiner kann uns helfen“, sagt der Fischer der taz. „Sie können Menschen töten und keiner stoppt sie.“
„Seit Januar bis heute haben wir fast täglich Angriffe gesehen, vor allem in den Grenzgebieten“, berichtet Ramzi Kaiss, Libanon-Forscher bei Human Rights Watch. Die Zerstörung mit schweren Maschinen und Bulldozern ginge weiter. Videos zeigten den Einsatz kontrollierter Sprengungen zur Zerstörung von Häusern und anderen Gebäuden wie Fertighäuser für Vertriebene.
Kontrollierte Sprengungen
Kaiss war Anfang des Jahres in den Dörfern. Dabei habe er zerstörte Rohre gefunden, die auf gezielte Sprengungen hindeuteten. „Ganze Stadtviertel wurden einer kontrollierten Sprengung unterzogen. Da waren nur noch Trümmer übrig.“ Eine beträchtliche Anzahl von Strommasten war umgestürzt, so Kaiss. „In fünf Dörfern stellten wir fest, dass das israelische Militär die Schulen als Militärstützpunkte genutzt hatten, das sind Kriegsverbrechen. Sie hatten die Schule absichtlich zerstört und wahrscheinlich Schulmaterialien geplündert.“
Seit Oktober 2023 wurden mehr als 100 Schulen im Südlibanon zerstört oder schwer beschädigt, zählt das UN-Kinderhilfswerk UNICEF. Datierte hebräische Graffiti in der Mittelschule von Naqoura deuten darauf hin, dass das israelische Militär einige der Schulen noch Wochen nach dem Waffenstillstand vom November 2024 besetzt hielt, so ein Bericht von Human Rights Watch.
„Das Ausmaß der Zerstörung in den Grenzdörfern ist so groß, dass es für viele Menschen unmöglich ist zurückzukehren“, sagt Kaiss. „Viele Dörfer liegen fast vollständig in Schutt und Asche. Wir sprechen hier von der Zerstörung von Hunderten von Häusern, Straßen, Strom- und Wasserinfrastruktur, also den grundlegenden Elementen, die zum Leben notwendig sind. Selbst wenn das Haus noch steht: Es gibt kein Strom, kein Wasser.“
Der Wiederaufbau wird Libanon mehr als 10 Milliarden Euro kosten, rechnet die Weltbank. Sie hat einen Kredit von rund 215 Millionen Euro zugesagt. Doch der Kredit muss vom Parlament noch genehmigt werden und viele Länder stellen Bedingungen für Wiederaufbaugelder, beispielsweise die Entwaffnung der Hisbollah sowie wirtschaftliche und soziale Reformen. „Mit dem Wiederaufbau wurde nicht wirklich begonnen“, so Kaiss. „Die Lage bleibt sehr düster.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert